Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

(nextflipdebug5) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Samstag, 21. September 2019


Die CVP notiert plötzlichprovokativeInhalteauf ihren Block–und alle schreien auf. CHRISTIAN BEUTLER / KEYSTONE


Wahlkampf

ohne Zukunft

In einem Monat finden nationale Wahlen statt. Doch ausser die Parteien und deren


Kandidierende scheint das kaum jemanden zu interessieren. Kein Wunder, denn die Politik


ist zu wenig ambitioniert. Fehlt es schlicht an Streitlust? Von Michael Sc hoenen berger


CVP – juhee! Endlich sucht in diesem bisher
lauenWahlkampf einePartei die inhaltlicheAus-
einandersetzung mit den politischenKonkurren-
ten. DieseWoche haben die Christlichdemokra-
ten eine Online-Kampagne gestartet.Darin ma-
chen sie Propaganda mitPolitikern derKonkur-
renz: DiePartei wirbt für ihre eigenenPositionen,
indem sie diese mit gegnerischenStandpunkten
vergleicht. Plakativ tut sie das und auch vereinfa-
chend. Aber niemand wird beleidigt, niemand dif-
famiert.Da sindkeine Würmer, die sich durch den
Apfel fressen. Eine klassische Negativkampagne
ist das nicht.Vielmehr ist es ansatzweisedas, was
sich dieWählerinnen undWähler in diesemLand
wünschen müssten: dass sichParteien über ihre
Positionen profilieren, dass so etwas wie ein poli-
tischerWettbewerb über Inhalte, ein Wettbewerb
der Ideen entsteht.


Mobilisierung als Schlüssel


Die CVP will mit ihrerPolitwerbung ausserhalb
ihres schwindenden traditionellen Milieus eine an-
dere Klientel ansprechen.Weder derWettbewerb
noch das gewählte Mittel sind verwerflich.Für die
CVP ist es die einzig richtige Strategie: Sie muss
neue Zielgruppen insVisier nehmen. EinePartei,
die seit1983 nur verliert, hatkeine andereWahl.
Nun ist der SchweizerPolitbetrieb jedoch amKom-
promiss orientiert. Und die CVP ist dieKompro-
misspartei schlechthin. DieKampagne ist also
durchaus nicht ohne Risiko, könnte sie doch die
eigeneBasis verärgern.Aggressive Kampagnen gab
es bisher fast nur vonseiten derSVP. Damit hatte
sie Erfolg. DiesePartei ist allerdings in politischen
Teilbereichen auf Oppositionskurs und adressiert
Protestwähler. So hat dieSVP allerechtenParteien
inkorporiert, die es früher einmal gab.Wo die CVP
genau fischen kann, ist vorerst nicht klar.


Nur die CVP geht bis jetzt in die Offensive.Das
Wurmplakat derSVP ist kampagnentechnisch al-
ter Tabak –offensichtlich lässt sich niemand mehr
von den Stilmitteln der1990erJahre provozieren.
Medien sind aufgesprungen, das war’s. DieKon-
kurrenz liess dieSVP ins Abseits laufen. Die übri-
gen Parteien halten sich bis jetzt in diesemWahl-
kampf brav an bewährte Muster: dieKernthemen
des Gegners möglichst umgehen,Aussagen und Slo-
gans allgemein halten.So geht es für die meistenPar-
teien primär darum, amWahltag die eigeneBasis
an die Urne zu bewegen. Damit gibt man sich in
den SchweizerParteizentralen bereits zufrieden. Es
stimmt zwar: Liesse sich nur schon die eigeneBasis
mobilisieren, wärenWähleranteile bereits gesichert
und wäre vermutlich da und dort sogar etwas hinzu-
gewonnen.Allerdings zeigt dies, wie wenig ambitio-
niert man hierzulande imPolitwettbewerb agiert.
Hört man sich um, sagen viele: «Ich weiss gar
nicht, was ich wählen soll.» Mit klareren Botschaf-
ten, die sich explizit auch an neueWählerschichten
richteten,mit positiver politischer Streitlust, mit
neuen und mutigen Ideen für die Schweizkönnten
die Parteien nicht nur den Diskurs beleben,sondern
auch etwas für die Partizipation tun.DieWahlbetei-
ligung bei den Nationalratswahlen 2015 lag bei be-
scheidenen 48 Prozent.Das ist zwar mehr oder weni-
ger langjährigerDurchschnitt, bleibt im Grunde
aber ein bescheidenerWert. Aus der 2016 erschie-
nenenWahlstudie Selects zu den nationalenWah-
len 2015 wird deutlich, dass dieWahlbeteiligung je
nach politischer Orientierung ziemlich unterschied-
lich ist.Personen, die sich im politischen Spektrum
links einordnen, gingen am fleissigsten wählen. Die
linke Seitekonnte dieWahlbeteiligung zudem seit
1995 stetig steigern.Auf derrechten Seite war sie
2015 weniger hoch und überdies rückläufig.Trau-
rig sieht es für die Mitte aus: DieParteien zwischen
den Polen mobilisieren imVergleich mit links und
rechts schlecht.Auch aus dieser Sicht spräche eini-

ges dafür, dass dieseParteien wieder härter politi-
sierten – so wie dasdie CVP jetzt tut.
Potenzial für dieParteien gäbe es beiFrauen und
Jungen.Wiederum gemäss der Selects-Studie wähl-
ten von denFrauen nur gerade rund 46 Prozent.
Bei den Männern waren es 53 Prozent. Zwar stieg
der Anteil der weiblichenWähler seit1995, sta-
gnierte allerdings zwischen2011 und2015. Es wird
spannend sein zu sehen, ob am 20. Oktober mehr
Frauen ihre Stimme abgeben. Immerhin spielten
Frauen- und Gleichstellungsthemen imWahljahr
eineRolle. Ein Rätsel bleibt, warum dieParteien –
vor allem die bürgerlichen – nicht viel direkter die
jungen Menschen ansprechen.Das ist einVersäum-
ni s. Nurgerade 30 Prozent der18-bis 24-Jährigen
gingen 2015 wählen. 39 Prozent waren es bei den
25- bis 34-Jährigen. Demgegenüber lag dieWahl-
beteiligung der 65- bis74-Jährigen bei 67 Prozent,
bei den über 75-Jährigen waren es rund 65 Prozent.

Die Elefanten im Raum


Indessen müsste man, wollte man dieJungen ge-
winnen,eben auchPolitik für dieJungen machen.
Bürgerliche wie linkeParteien allerdings bewei-
sen in der Bundespolitik leider nur allzu oft, dass
ihnen die nachkommenden Generationen ziemlich
egal sind.Besonders in derRentenpolitik ist das
augenfällig, wo die Belastungen in die Zukunft ver-
lagertwerden.Auch die antikapitalistischePolitik,
die im Namen des Klimas von Links-Grünverfoch-
ten wird, wird nichts anderes bringen als hohe Be-
lastungen für die nachkommenden Generationen.
Besser wäre eine Klimapolitik, die auf Innovation
und Kostenwahrheit setzte.Aber es gilt eigentlich
für die gesamtePolitik der letztenJahre: Trumpf
sind Mehreinnahmen jetzt – und in der Zukunft. So
hilft manJungen nicht, man verbaut im Gegenteil
ihre Chancen. Zudem sindkeine echtenReformen
in Sicht, die denJungenWachstum und Prosperität
versprächen. Es ist so:Wer unter demJahr ständig
Politik aufKosten derJungen macht, kann nicht
plötzlich vorWahlen um sie werben, ohne sich ein
Glaubwürdigkeitsproblem einzuhandeln.
Themen, zu denen in einemWahlkampf klare
Positionsbezüge zuerwarten wären, gäbe es zur Ge-
nüge. DasVerhältnis zu Europa. Die Integration
von Fremdsprachigen in die Schule. Die explodie-
renden Gesundheitskosten.Das ungelöste Problem
der Altersvorsorge. Die Digitalisierung. Die über-
lastetenVerkehrsinfrastrukturen. OffeneFragen
in der Sicherheitsarchitektur. Gefragt wäre nicht
die Bewirtschaftung dieserThemen,sonderngute
Ideen und politisch umsetzbare Lösungsvorschläge.
Doch in diesemWahlkampf lässt man lieber Luft-
ballone steigen, veranstaltet Volksfeste. Wenn
einePartei inhaltlich auf andere losgeht wie jetzt
die CVP, empören sich fast alle – statt inhaltlich
zu widersprechen und andere oder bessere Argu-
mentevorzubringen.

Und nach denWahlen?


Wenn alles sokommt, wie Umfragen es prognos-
tizieren, dann werden dieVerhältnisse imParla-
ment ziemlich stabil bleiben.Sicherlich:Für die ein-
zelnePartei ist es bedeutsam,ob sie1Prozent hinzu-
gewinnt oder nicht. Aber für das Gros derWähler
spielt daskeine Rolle. Das Spannendste am Abend
des 20. Oktobers 2019 wird sein zu sehen, ob die
Grünen die CVP bei den Nationalratswahlen in den
Wähleranteilen überholen. Die Umfragen lassen
es vermuten. Sollte dem so sein, wird sicherlich die
Frage nach der Zusammensetzung des Bundesrats
aufgeworfen.Eine bewährte – ungeschriebene –Re-
gel ist,der bei den Nationalratswahlen viertstärksten
Partei einen Sitz in derLandesregierung zu geben.
Dieser würde dann den Grünen gehören.Allerdings
käme erschwerend hinzu, dass die CVP im Stände-
rat nach wie vor eine Macht bleiben dürfte. Usanz
ist allerdings auch, dass die erstarkte Kraft ihre neue
Stärke erst einmal beweisen muss. So hat auch die
SVP lange auf einen zweiten Sitz warten müssen.
Wieauch immer.Die Frage nach derKonkordanz
und der «richtigen»Vertretung derParteien im Bun-
desrat dürfte nach denWahlen zumThema werden.
Im Lande Tells fehlt es nichtander Lust,poli-
tisc h zu streiten.Jedes Jahr beweisen die Debat-
ten rund um vier Abstimmungssonntage auf natio-
nal er Ebene und um zig kantonale undkommu-
nale Urnengänge, dass die Debattenkultur intakt
ist. Was fehlt, ist derWille derParteien, die gros-
sen Linien für eine zukunftsfähige Schweiz zu um-
reissen und dazu kluge Ideen zu liefern. Der zahme
Wahlkampf wie auch dieReformunfähigkeit der
letztenJahre sind Exempel für eine vomWohlstand
satte Schweiz, der es zu gut geht, als dass sie Dinge
verändern möchte.Wirklicher politischer Streit um
die Zukunft wird – im positiven undkonstrukti-
ven Sinne – wohl erst dann losbrechen, wenn die
Einnahmen des Staates massiv unter Druckkom-
men. Solange diePolitik zu grossenTeilen darin be-
steht, Geld zu verteilen, das zur Genüge vorhanden
ist und dasandere erwirtschaftet haben, muss eben
auch nur übers Geldverteilen und übers Umvertei-
len gestritten werden. In einem solch florierenden
Land braucht eskeine neuen Ideen und schon gar
keine Visionen.Allen geht es gut. DerWahlfrieden
ist gewährt.Aber die Schweiz von morgen wartet.

Bürgerliche wie linke


Parteien beweisen


in der Bundespolitik


leider allzu oft, dass ihnen


die nachkommenden


Generationen


ziemlich egal sind.

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