Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

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Samsta g, 21. September 2019 SCHWEIZ 13


«Wir können nicht erwarten, dass die


Bauern sich für die Ehre des Landes opfern»


Bundesrat Guy Parmelin diagnostiziert eineAnti-Landwirtschafts-Hysterie in der Schweiz. Erwirbt für mehr Verständnis und


für Pragmatismus in der Handelspolitik. Das Gesprächführten AngelikaHardegger und Gerald Hosp


HerrParmelin, Siewaren bis zur Ihrer
Wahl in den BundesratBauer.Würden
Sie imJahr 2019 nochBauer seinwollen?

Natürlich!


In derBauernpresse haben Sie gesagt,
es gebe eine«Anti-Landwirtschafts-Hys-
terie».

Die gibt es.Wer Zeitungen liest , erhält
den Eindruck, dieLandwirtschaft sei
eineeinzigeLastfürUmweltundGesell-
schaft. Diese Berichte sind nicht objek-
tiv. Sie befriedigen eine Sensationslust.


Die Medien schreiben,was das Bun-
desamt für Umwelt schreibt. Nämlich:
Unser Grundwasser ist mitPestiziden
und Nitraten belastet. Die wichtigste
Trinkwasser-Ressource ist in Gefahr.

Ich war nicht einverstanden, wie das
Bundesamt für Umweltkommuniziert
hat. Ausserdem hat dieser Bericht mit
Grenzwerten operiert, die international
anders angewendet werden.


Sie sagen, das Bundesamt für Umwelt
wende falsche Grenzwerte an?

Es interpretiert die Messwerteanders.
Auf internationaler Ebene gelten an-
dere Massstäbe, und das Bundesamt
für Landwirtschaft hält sich als Zu-
lassungsbehörde an dieseVorgaben.
Kommt hinzu, dass die Messungen im
Grundwasser-Bericht nur bis 2016 reich-
ten. Seither haben wir den Aktionsplan
Pflanzenschutz. Dessen Umsetzung ist
auf Kurs. Die Landwirte halten sich an
die gesetzlichenVorgaben und spritzen
weniger. Die Verkäufe von Herbiziden
sind stark rückläufig: Beim Glyphosat
gingen sie gegenüber 2008 um 45 Pro-
zent zurück.


Dann ist alles halb so schlimm, undalles
kann bleiben, wie es ist?

Es ist nicht nur schönesWetter .Aber
unsereWasserqualität ist laut den Kan-
tonschemikern gut.Wenn wir Stoffe fin-
den, die dort nicht hingehören, reagie-
ren wir .Wir haben in den letztenJahren
mehr als180 Produkten die Zulassung
entzogen.Derzeit läuft derRückzug des
Fungizids Chlorothalonil.Aber wirkön-
nen nicht 30Jahre Pestizidpolitik und
Pestizidnutzung von einemTag auf den
anderenkorrigieren.


DieBevölkerung wird frühestens im
Herbst 2020 über diePestizid-Initiati-
ven abstimmen. Sie versuchen mit der
Agrarreform den grossenBefreiungs-
schlag. Reichen die geplanten Massnah-
men wirklich aus?

Der Bundesrat hat einen Absenkpfad
für Nährstoffüberschüsse beschlossen:


Bis 2025 sollen die Überschüsse um
mindestens 10 Prozent und bis 2030 um
mindestens 20 Prozentreduziert wer-
den. Dieser Absenkpfadist verbindlich,
wir schreiben ihn ins Gesetz.Das geht
weiter als alles, was wir bis jetzt gemacht
haben. Und: Dieser Plan kann bald um-
gesetzt werden, anders als die Initiati-
ven. Diese haben Übergangsfristen von
mehrerenJahren. Im schlimmstenFall


wird eine angenommen und dieBauern
machen achtJahre weiter wie heute. Das
wäre schlecht.

Die Bäuerinnen freuen sich auf dieAgrar-
reform. Sie kämpfen seitJahren für eine
bessere soziale Absicherung, aber die
Bauern haben sich taub gestellt. Sie hören
den Landfrauen jetzt zu.Warum?
Ich habe Dramenerlebt.Ich kenne
Frauen und Männer, meist waren es
Frauen, die haben ein Leben lang auf
einem Hof gearbeitet. Die haben alles
gegeben.Dann kam es zum Beispiel zur
Trennungoder zueinem Unfall mit In-
validität – und sie hatten gar nichts.

Sie schlagen vor, dassBetriebsleiter ihre
Familienmitglieder sozialversichern
müssen. Sonst sollen sieweniger Direkt-
zahlungen erhalten.Das ist ein grosser
Eingriff in dieFreiheit derBauern.
In der Branche ist mein Plan sehr un-
populär.Aber eigentlich müssten schon
heutealle Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter auf den Höfen sozialversichert
sein. Ich möchte diese unhaltbare Situa-
tion in Ordnung bringen.

DieBauern gelten beimFreihandel als
Bremse.Sie sind zugleich Handelsminis-
ter und Landwirtschaftsminister.Was
geht im Zweifelsfall vor;Freihandel
oder Heimatschutz?
Wir könnenkeine Freihandelsabkom-
men gegen eine Branche wie Pharma
oder die Landwirtschaft abschliessen.
Der Bauernverband muss mit einbe-
zogen werden. DieBauern verstehen,

dass eine florierende Gesamtwirtschaft
gut ist für dieLandwirtschaft. Aber die
Branche verteidigt ihre Interessen – wie
alle anderen Branchen auch.Wir kön-
nen nicht erwarten,dass dieBauern sich
für die Ehre desLandes opfern.

Bei denVerhandlungen mit demsüdame-
rikanischenWirtschaftsblockMercosur
haben Sie dieBauern eng mit einbezo-
gen.Als die Unterzeichnung dann ver-
kündetwurde,haben dieBauern trotz-
dem protestiert.
Die Verhandlungspunkte wurden mit
dem Bauernverband abgesprochen.Der
Bauernverband hat guteTaktiker – und
es istWahlkampf.

Die Opposition gegen das Abkommen
ist gross. Neben demBauernverband
sprechen sich auch die Grünen und die
SP dagegen aus.
Ich glaube, dass wir imParlament eine
Mehrheit finden werden,sobald das defi-
nitiveAbkommen vorliegt. Sollte trotz-
dem einReferendum zustande kommen,
wäre es das erste Mal seit1972, dass die
Schweizer Bevölkerung über einen Han-
delsvertrag abstimmt.Dann müssten wir
aufzeigen, was es heisst, wenn die EU
einAbkommen mit dem Mercosur hat
und die Schweiz nicht:Schweizer Unter-
nehmen würden einenDurchschnittszoll
von 7Prozent bezahlen,in manchen Be-
reichen gar einen Zoll von 35 Prozent.
Firmen aus der Europäischen Union
hätten enormeWettbewerbsvorteile.In
der Schweiz würden Arbeitsplätze ver-
loren gehen.

In der EU ist derWiderstand gegen
Freihandel mit Südamerika auch gross.
ÖsterreichsParlament will denVertrag
blockieren.
Das Abkommen der EU liegt ja noch
nicht einmal vor. Eine Unterzeichnung
er folgt frühestens Ende 2020. Erst da-
nach beginnt dieRatifizierung in den
Parlamenten.Ich bin überzeugt,dass die
EU am Enderatifizieren wird.

Was sagen Sie Gegnern, die eineVer-
schlechterung derProduktestandards
fürchten?
Importierte Produkte müssen grund-
sätzlich die Anforderungen der Schwei-
zer Gesetzgebung erfüllen. DerKonsu-
ment spricht bei Importen aber ein ge-
wichtigesWort mit.Für unsereBauern
kann das vonVorteil sein, das haben die
Handelsgespräche mit Indonesien ge-
zeigt.Damals wurden Bedenken geäus-
sert wegen desPalmöls. Jetzt hat man
entschieden, dass die SchweizerBauern
als Alternative mehrRapsöl produzie-
ren sollen.

Macht das Mercosur-Abkommen einen
Handelsvertrag mit den USA unwahr-
scheinlicher? DieBauern könnten sich
auf den Standpunkt stellen:Wir haben
ja schonKonzessionen gemacht.
Die Bauern profitieren auch vom Zoll-
abbau.Sie können zum Beispiel bis 990
Tonnen Käse in die Mercosur-Staaten
zollfrei exportieren.Mit den USA haben
wir exploratorische Gespräche angefan-
gen. DieKontakte laufen gut,wir sind
aber noch nichtam Ende.

Sind Sie denn schon am Anfang?
Kamen von amerikanischer Seite bereits
Vorstellungen dazu,welche Punkte ein
Handelsvertrag umfassen soll?
Wir haben unserenWillen dargelegt.
Der Austausch läuft.Washington weiss,
dass es bei uns sensitive Bereiche gibt,
eben zum Beispiel in Bezug auf die
Landwirtschaft.Wenn Gespräche begin-
nen, musses aberzumindest eineAus-
sicht auf Erfolg geben. Das klären wir
im Moment. Die Amerikaner erachten
den Abbau des Handelsbilanzdefizits
mit der Schweiz als wichtig.

In den USA steht ein Präsidentschafts-
wahlkampf an. Schliesst sich damit ein
Zeitfensterfür Verhandlungen?
Am Anfang hat man gesagt, die Ameri-
kaner hättenkeine Zeit, weil sie zu sehr
mit China und anderen Ländern be-
schäftigt seien. Ich habe mich dann mit
dem HandelsbeauftragtenRobert Light-
hizer getroffen und den Dialog begon-
nen. MeinKollege Ueli Maurer war bei
PräsidentTrump. Die US-Regierung
kennt unsere Anliegen. DerBall liegt
im Moment bei denAmerikanern.Wenn
morgen einAnruf aus den USAkommt,
ich müsse mich erneut mit Lighthizer
treffen, bin ich dazu bereit.

DieKonjunktur hat sich eingetrübt. Ein
Handelskriegzwischen China und den
USA lastet auf derWeltwirtschaft. Die
Schweiz versucht sich mit einem Netz
an Handelsverträgen dagegen zu stem-
men.Müssten Sie nicht zuerst die Situa-
tion mit unserem grössten Handelspart-
ner klären, mit der EU?
Die EU verhandelt auch mit anderen
Ländern, etwa mitJapan oderVietnam.
SoversuchendieEuropäer,dieBlockade
der Welthandelsorganisation WTO zu
überwinden.Die Schweiz muss dasGlei-
che tun, wir habenkeine Wahl. Japan ist
eingutesBeispiel:UnserAbkommenmit
Tokio ist zehnJahre alt. Die EU hat in-

zwischen einen neuerenVertrag abge-
schlossen, dadurch sind wir ins Hinter-
treffen geraten.Jetzt müssen auch wir
unser Abkommen modernisieren. Han-
delspolitik ist ein ständigerWettlauf.

Die Gespräche zum Rahmenabkom-
men sind blockiert.Wirdes einen schlei-
chenden Brexit auf Schweizerisch geben,
einen Schwexit?
Die Schweiz will – im Gegensatz zum
VereinigtenKönigreich – nirgendsaus-
treten. Die EU ist unser grösster Han-
delspartner, Deutschland die wichtigste
Partnernation,insbesondere mit Ba-
den-Württemberg undBayern. Dahin-
ter kommen aber schon die USA, ein
Markt miteinem riesigenPotenzial.Die
USA sind auch wichtig.

Also nehmen Sie eine Erosion unserer
Handelsverträge mit der EU in Kauf.
Wir sind ankeiner Erosion interessiert.
Ich halte aber fest: Die aktuellenVer-
träge sind immer noch gültig. BeidePar-
teien haben bei der jetzigen internatio-
nalen Situation mit Brexit,Handelskrieg
und WTO-Blockade ein grundsätzliches

Interesse,an der stabilen Beziehung
festzuhalten. Für beide Seiten muss nun
Pragmatismus das Stichwort sein.Nur so
kommen wir weiter.

Ist einVereinigtesKönigreich ausserhalb
der EU ein Gewinn für die Schweiz?
Es gibt sicherlich Bereiche, in denen wir
uns zusammen auf bilateraler Basis bes-
ser entwickelnkönnen, wie in derWirt-
schaft oder in derForschung. Diese Zu-
sammenarbeit müssen wir vertiefen.

Ist es eine Option, die Briten in der
Europäischen Freihandelsassoziation
(Efta) aufzunehmen?
Wir haben solche Überlegungen in der
Efta noch nicht angestellt.Wir haben
auchkein Beitrittsgesuch aus London
erhalten. Ich kann Ihnen aber sagen,
dass es für die Briten im Momentkeine
Priorität hat, Mitglied der Efta zu wer-
den. Jetzt müssen sie zuerst einmal ihr
Verhältnis zur EUregeln.

Das Kernkraftwerk Mühleberg wird in genau drei Monaten


abgestellt – der Rückbau beginnt um gehendSEITE 14


Für Lega-Staatsrat Norman Gobbi ist die Angliederung


von Campione d ’Italia an die Schweiz eine Opti onSEITE 16


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DieBerichterstattung zumPestizid-Problemsei nicht objektiv,sagtBundesrat Guy
Parmelin.Erwirft den Medien Sensationslustvor. KARIN HOFER / NZZ

«Wir können nicht
30 Jahre Pestizidpolitik
von einemTag auf den
anderen korrigieren.»

«Handelspolitik
ist ein ständiger
Wettlauf.»

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