Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

(nextflipdebug5) #1

14 SCHWEIZ Samstag, 21. September 2019


In den digitalen Bildungsdschungel kommt mehr Licht


AmDienstag dürfte sich der Ständerat geg en zwei Motionen für zusätzlichedigitale Impulsprogramme entscheiden –doch das macht nichts


JÖRG KRUMMENACHER


Allmählich finden sich Bund,Kantone
und Gemeinden auf einem gemeinsa-
men Gleis, um die Digitalisierung im
Bildungsbereich voranzubringen.Lange
Zeit fehlte es an Leitlinien und anKo-
ordination, was Standards, Lehrmit-
tel, Datenschutz und Sicherheit betrifft.
Manche Schulen versuchten in Eigen-
regie den digitalen Dreh zu finden, Gel-
der verpufften.Das führte unter ande-
rem zumAufruf der Städteinitiative
Bildung, die Grundlagen füreine ge-
rechte Bewältigung des digitalenWan-
dels zu schaffen und ärmeren Gemein-
den unter die Arme zu greifen. DerVer-
band Lehrerinnen und Lehrer Schweiz
(LCH) verlangte einen engerenAus-
tausch unter den Kantonen.
Inzwischen sind erste Pflöcke einge-
schlagen.Vor den Sommerferien haben
die kantonalen Erziehungsdirektoren


(EDK) einen Arbeitsplan zur Umset-
zung ihrer Digitalisierungsstrategie ver-
abschiedet. Er enthält sieben Massnah-
menbereichezur besseren nationalen
Koordination und stärkt unter ande-
rem die Lehrpersonen, deren künftige
pädagogische Leistung sich nicht in der
Rolle desreinen Digitalassistenten er-
schöpfen soll. Beat A. Schwendimann,
der Leiter derPädagogischen Arbeits-
stelle beim LCH, stellt dazu fest, dass
zentrale Forderungen des Lehrerver-
bands aufgenommen worden seien.

NationalePlattform erwünscht


Ein wesentliches Element ist die Schaf-
fung einer schweizweit akzeptierten
digitalen Identität für Schülerinnen und
Schüler. Diese soll ihnen überall einen
datenschutzkonformenZugangzudigita-
len Diensten und Lehrmitteln erlauben.
Die kantonalen Erziehungsdirektoren

wollen an ihrer Plenarversammlung vom


  1. Oktober eine entsprechendeFödera-
    tion ins Leben rufen,der die Kantone ab
    2020 beitretenkönnen. NachAuskunft
    der EDK-Generalsekretärin Susanne
    Hardmeier besteht eine der wichtigsten
    Aufgaben darin, Mindeststandards im
    Datenschutz zu fixieren.
    Noch nicht realisiert ist vorder-
    hand eine vom LCH gewünschte na-
    tionale Plattform im Bereich derVolks-
    schule, wie sie auf Stufe Berufsbildung
    seit Dezember 2018 besteht. Diese gibt
    unter demTitel «digitalinform.swiss»
    einen Überblick über den digitalen
    Wandel in der Berufsbildung und wird
    vom Bund unterstützt.Auf Volksschul-
    stufe besteht immerhin schon eine Platt-
    form, dieVisiten von Schulen fördert.
    Sie erlaubt den Schulen, voneinander
    zu lernen,wie digitaleTechnologien ziel-
    gerichtet genutzt werdenkönnen.Auch
    auf Stufe der Hochschulen und derFor-


schungsförderung istdie Zusammen-
arbeit bei digitalen Projekten zu einem
Schwerpunkt geworden. ImRahmen
seiner laufend aktualisierten Strategie
«Digitale Schweiz» hat sich der Bun-
desrat für alle Bildungsstufen zur ver-
stärktenKoordination zwischen Bund
und Kantonen bekannt. Dazu gehören,
wie es heisst, auch die «zeitnahe Beob-
achtung der Entwicklungen» und eine
Stärkung des Dialogs mit dem Ziel, ge-
samtschweizerische Lösungen zu finden.

Nationalrat wird ausgebremst


Vor diesem Hintergrunderstaunt nicht,
dass die ständerätlicheKommission für
Wissenschaft, Bildung undKultur nun
bei der Schaffung weiterer Programme
auf die Bremse tritt. Sie empfiehlt zwei
MotionenihrernationalrätlichenSchwes-
terkommission,die der Nationalrat noch
im Juni deutlich durchgewinkt hatte, ein-

hellig zur Ablehnung. Am kommenden
Dienstag werden die beiden Motionen
im Plenum behandelt. Sie verlangen die
Schaffungvon Gesetzesgrundlagen für
zusätzliche digitale Impulsprogramme,
die einerseits eine nationale Bildungs-
plattform, anderseits zusätzliche Gelder
für den Hochschul- undBerufsbil dungs-
bereich sicherstellen sollen.
Die ständerätlicheKommission hält
dies im heutigen Zeitpunkt für über-
flüssig. Sie verweist auch auf Zusiche-
rungen des Staatssekretariats für Bil-
dung, Fo rschung und Innovation (SBFI),
wonach die Digitalisierung auch in der
nächsten Bildungsbotschaft für dieJahre
2021–2024 eine zentraleRolle einneh-
men werde und entsprechendeImpuls-
programme ohnehin geplant seien. Die
Probeaufs Exempel lässt sich im ersten
Quartal des nächstenJahres machen:
Dann wird der Bundesrat die neue BFI-
Botschaft vorlegen.

QUELLE: BKW NZZ Visuals/cke.

Stilllegung undAbbruchdesKraftwerksMühlebergimZ eitverlauf


Stilllegungsverfügung rechtskräftig 6. September 2018


  1. Dezember 2019
    2020


20242024

20302030
20312031

2034

2037

Stilllegungsarbeiten

Stufenweise Ausserbetrieb-nahme

Konventioneller Abbruch

Endgültige Einstellung Leistungsbetrieb

Brennelemente in Lagerbecken

Brennelemente sind aus der Anlage entfernt

Rückbau abgeschlossen

Allfällige Neunutzung

Keine radiologische Gefahrenquelle mehr

Im AKW Mühleberg steigt der Druck


In genau drei Monatenwird das Kernkraftwerk abgestellt, und die Stilllegung beginnt


HELMUTSTALDER



  1. Dezember2019,12Uhr30–dasistdas
    magischeDatum, auf das die Betreiber
    des Kernkraftwerks Mühleberg westlich
    von Bern seit sechsJahren hinfiebern.
    Läuft alles gut, drücken dann zwei Mit-
    arbeiterimKommandoraumgleichzeitig
    zwe iKnöpfeundstellendieAnlagenach
    47 Jahren für immer ab. Jetzt,genau drei
    MonatevordemendgültigenAus,hatdie
    Besitzerin BKW den Masterplan erläu-
    ter t, nach dem sie vorgehen wird.Auch
    nach der Einstellung des Leistungs-
    betriebs bleibt Mühleberg noch jahre-
    lang eine Atomanlage und muss nach
    einem ausgeklügeltenVerfahren herun-
    tergefahren,indensicherenNachbetrieb
    übergeführt und schliesslich unter Ein-
    hal tung strenger Strahlen- und Brand-
    schutzbestimmungen Stück für Stück
    auseinandergebaut werden.
    «Technisch ist die Stilllegung nichts
    Neues», sagte BKW-Chefin Suzanne
    Thoma bei der Präsentation. «Aber da
    Mühleberg das ersteKernkraftwerk
    in der Schweiz ist, das abgestellt wird,
    haben wir mit den Behörden und der
    Verwaltung denWeg finden müssen und
    leisten damit Pionierarbeit.» Die Stillle-
    gung von Mühleberg seien nicht nur für
    die BKW das grösste Projekt seit dem
    Bau, sondern auch das derzeit grösste
    privat finanzierte Projekt der Schweiz.


Die Kosten für den Nachbetrieb und
die Stilllegung der Anlage belaufen
sich gemäss derzeitiger Schätzung auf
927 MillionenFranken, finanziert über
485 MillionenFranken BKW-Mittel im
Stilllegungsfonds, 339 MillionenFran-
keneigeneRückstellungen sowie künf-
tige Beiträge und Anlageerträge. Hinzu
kommen vor allem ab 2040Kosten für
die Entsorgung desradioaktiven Mate-
rials von 1,427 Milliarden Franken.Da-
für hat die BKW im Entsorgungsfonds
765 MillionenFranken zurückgestellt
und wird bis 2020 noch 64 Millionen
Franken einzahlen; derRest von 597
MillionenFranken soll über die lang-
fristigen Anlageerträge hereinkommen.

Nahtloser Übergang


Die BKW trage dieKosten vollstän-
dig, die Finanzierung sei sichergestellt,
betonteThoma. Und mit den Risiko-
zuschlägen seien dieKostenschätzungen
«sehr, sehr grosszügig gerechnet». Ein
Kostentreiber bei der Stilllegung sei es,
wenn die Anlage nicht mehr produziere
und unnütz herumstehe, bis derRück-
bau beginne. «Deshalb gehen wir sehr
kurz nach der Abschaltung,sogut wie
nahtlos, in denRückbau», sagteThoma.
Im November und Dezember wird
zunächst die Stromproduktion des
Reaktors zurückgefahren, weil der

letzte, vor einemJahr geladene Brenn-
stoff bald aufgebrauchtist, wie Kraft-
werksleiter Martin Saxer erläuterte.
Dann, am Morgen des 20. Dezembers,
werden die Steuerstäbe zwischen die
Brennelemente geschoben, so dass die
Kettenreaktion unterbrochen wird und
die Anlage abstellt.Danach baut sich
der Druck imReaktorrasch ab, und die
Temperatur fällt innerhalb von sieben
Stunden von 280 auf 100 Grad. Bis am


  1. Dezember soll das Herunterfahren
    abgeschlossen sein, so dass nachWeih-
    nachten, am 6.Januar, die Rückbau-
    arbeiten beginnenkönnen.
    Die Vorbereitungen dafür laufen seit
    geraumer Zeit.So werden möglichst
    vieleradioaktiveBetriebsabfälleundab-
    gebrannteBrennelementeinsZwischen-
    lagerWürenlingen gebracht.Auf dem
    Gelände werden Flächen freigeräumt,
    um für denRückbau Container aufstel-
    lenzukönnen.AucheineneueStromver-
    sorgung gibt es, wenn das eigeneWerk
    keinenStrommehrliefert.ImerstenJahr
    gehtesvorallemdarum,dentechnischen
    Nachbetrieb zu etablieren, wie Stefan
    Klute,Gesamtprojektleiter Stilllegung,
    erläuterte.DreiMonatebleibendierund
    360BrennstäbezunächstimReaktor,da-
    mit die Strahlung abklingen kann.Dann
    werden sie ins mit 850000 Liter nWas-
    ser gefüllteLagerbecken innerhalb des
    Reaktorgebäudes gehoben.


Nach weiteren sechs Monaten ist die
Wärmeproduktionsoweitgesunken,dass
die Kühlung des Lagerbeckens «autar-
kiert» werden kann.Dabei wird das be-
trieblicheKühlsystem vomReaktor ge-
trennt und aufs Becken gelegt, so dass
dort das Betriebs-, das Sicherheits- und
dasNotkühlsystemkonzent riertsi nd.Bis
2024kühltderBrennstoffab,dannwirder
insZwischenlagerWürenlingengebracht.
DasSchadenspotenzial nehme in dieser
Phasekontinuierlich ab, betonteThoma.
Drei TagenachdemAbschaltenseiender
Dru ck und dieTemperatur imReaktor
abgesunken,sodassauchbeieinemFlug-
zeugabsturz oder einem Erdbebenkeine
Explosion mehr stattfindenkönne.Und
wenndieBrennelemente2024wegseien,
seien 98 Prozent derRadioaktivitätaus
der Anlageentfernt.

Handarbeit im Schutzanzug


Sobald die Brennelemente im Becken
liegen,beginnendieArbeiter,obsoletge-
wordene Anlagenteile abzubauen, wie
Klute erläutert.Von Januar bis März
2020entfernensieimMaschinenhausdie
Spli tterschutzwände,165Stück,jedevier
bis elf Tonnen schwer. Dann folgen von
Januar bis OktoberTurbinen,Generato-
renund andereKomponenten.Sowird
indergeschütztenZonePlatzgeschaffen
fürdieZe rlegungunddieDekontamina-

tion der radioaktivenTeile. Rohrleitun-
gen, Kabel, Schaltschränke, Motoren –
alles kommt dort durch, wird in Hand-
arbeit unter Schutzvorkehrungen aufge-
trennt,gereinigt und sortiert, bevores
dasGeländeverlässt.6000Tonnenradio-
aktives Material bereiten die Arbeiter
für die geologischeTiefenlagerung vor,
etwa 2 Prozent des ganzen Kraftwerks.
Für denRückbau setzen dieVer-
antwortlichen möglichst viele der bis-
herigen rund 300 Mitarbeiter ein, da
diese die Anlage genaukennten und
über wertvollesWissen verfügten, sagte
Kraftwerksleiter Saxer. 2020 soll dieAb-
teilungRückbau auf 100Personen an-
wachsen, 80 von ihnen eigene Leute. Zu-
dem wurde der Strahlenschutz mit zu-
sätzlich geschultem Eigenpersonal auf
35 aufgebaut und eine spezialisierte
Firma zugekauft und auf 50 Mitarbei-
tende erweitert. Etwa 200 Leute und je
nach Phase bis zu 80 zusätzliche spezia-
lisierte Arbeitskräfte sollen bis 2030 mit
dem Rückbau beschäftigt sein.
Dann ist das Kraftwerk Mühleberg
frei vonRadioaktivität und kann – nach
der Freigabe durch die Aufsichtsbehörde
–von 2031 bis 2034konventionell abge-
rissen werden. Ziel ist die Herstellung
der «grünenWiese», also der Rückbau
aller Gebäudestrukturen inklusive der
Fundamente.Wie das Gelände danach
genutzt wird, ist offen.

Bis im März 2020 bleiben die rund 360 Brennelemente imReaktor,damit die Strahlungabklingen kann. REUTERS

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