Samsta g, 21. September 2019 SCHWEIZ
AUFGELESEN
Neid auf die Klimajugend?
ryn.·Gibt es irgendeinen Nationalrat, der am Donnerstag
kein Bild der Klimastreik-Aktion im Bundeshaus getwit-
tert hat?Jeder sah sich genötigt, seinen Senf dazuzugeben.
Applaus und Missgunst wechselten sich ab. Daneben wurde
fleissig darüber spekuliert, wie dieJugendlichen ihrTr anspa-
rent ins Bundeshaus schmuggelnkonnten.Vielleicht lässt sich
das Unbehagen einiger Nationalräte damit erklären,dass sie
durch den Schriftzug «It’s the final countdown» unbarmherzig
an das näherkommende Ende der Legislaturperiode erinnert
wurden – und damit auch andas potenzielle Ende ihrerPolit-
karriere.So mancherParlamentarier imWahlkampfmodus
würde sich wohl wünschen, er hätte für seine gesammelten
Voten nur annähernd so vielAufmerksamkeit bekommen wie
die Klimajugend für die zwei Minuten Protestgesang.
Heiratsstrafe für Ledige
fab.·In der Klimapolitik ist dasJahr 2050 das Mass der Dinge.
Das ist weit weg, zugegeben. Doch dieVorkämpfer gegen die
steuerliche Heiratsstrafe wären wohl froh, wenn sie sicher sein
könnten, dass ihr Problem bis 2050 gelöst ist. Am Montag hat
der Ständerat eine weitereZusatzschlaufe beschlossen, gefühlt
etwa die hundertste. Längst steht fest: Die Heiratsstrafe hält
länger als eine durchschnittliche Ehe.Am Montag gab CVP-
StänderatPeter Hegglin eine interessante Analyse zum Bes-
ten: DieVerfassungswidrigkeit bei der Bundessteuerbestehe
schon seit der Abschaffung desKonkubinatsverbotes. Ob er
damit sagen wollte, das Problem liesse sich lösen, indem das
Verbot wieder eingeführt wird? Eines wäre klar: LedigePaare,
die trotzVerbot zusammenleben, müssten knallhart sanktio-
niert werden– mit der Heiratsstrafe.
Ueli Maurer forever
fab.·Apropos Heiratsstrafe: In der Debatte am Montag im
Ständerat hat Bundespräsident Ueli Maurer ein persönliches
Geständnis abgelegt. Er nahm darin Bezug auf das vielzitierte
Urteil des Bundesgerichts zur Heiratsstrafe von1984. Maurer
im Originalton:«Vorab und unter uns muss ich schon sagen,
dass dieseVorlage meineAutorität zu Hause untergräbt.Wir
haben1978 geheiratet, und1984 haben wir gesagt, jetzt werde
alles gut. Es ist einRunning Gag,dass ich zu Hause gefragt
werde, weshalb ich eigentlich nach Bern gehe, wenn wir nicht
einmal dieses Problem lösenkönnten.» Man darf also anneh-
men, dass Maurer bis mindestens 2050 im Amt bleibt.
CVP führt umstrittene
Kampagne weiter
Präsident Pfister von Heftigkeit der Reakti onen überrascht
(sda)·Der als Negativkampagne be-
zeichneteWahlkampf-Clouder CVP
im Internet hat eingeschlagen wie eine
Bombe. Parteipräsident Gerhard Pfister
zeigte sich geradezu überrumpelt von
den vielenReaktionen und ihrer Hef-
tigkeit. Hätte er die Grösse des Sturms
ermessenkönnen, hätte er die Kanto-
nalparteien vorgewarnt, sagte Pfister am
Freitag in einem Hintergrundgespräch
vor den Bundeshausmedien in Bern.
Generalsekretärin Gianna Luzio er-
klärte, bei der Internetkampagne habe
die von der CVP beauftragte Agentur
alle Kandidatennamen der imParlament
vertretenen und wieder antretendenPar-
teien ausser der EVP als Google-Schlag-
worte benutzt. Im Zentrum stünden die
Themen der CVP. In der zweiten Phase,
welche amWochenende startet, führt die
Partei die Kampagne mit den Namen als
Schlagworten weiter, fügt aber noch Be-
griffe wie etwa Gesundheitskosten oder
Parteinamen hinzu. Diese neuen Schlag-
worte würden dann je nach Klicks an-
gepasst oder andere hinzugefügt, sagte
Luzio. In der dritten Phasesetzt diePar-
tei dann auf Inhalte undwill so ihre Sicht-
barkeit in den sozialen Netzwerken ver-
stärken. Die nationalePartei setzt im
gegenwärtigenWahlkampf aufs Internet.
Eine landesweite Kampagne mit Plaka-
ten führt sie nicht. Unterdessen sei das
ungeheuer teuer und dieWirkung zwei-
felhaft,sagte Pfister.
Die CVP-Internetkampagne sorgte
zuWochenbeginn fürAufsehen.Wer
beim Suchdienst Google nach Kandi-
datinnen und Kandidaten forscht, stösst
auf ein unauffälliges Inserat. Beim Klick
darauf öffnet sich eine CVP-Seite, wel-
che in derAufmachung derParteiseite
der Kandidierendengleicht – etwa grün
für dieSVP. Aufdieser vermeintlichen
Kandidatenseite erscheinen eineFrage
und dasRezept derPartei des Kandi-
daten, welches die CVP dann mit ihrer
Positionkontert.
Im Normalfall ist dieWahl ins Präsidium der drei Gerichtskammern inBellinzona eineRoutineangelegenheit. JEAN-CHRISTOPHEBOTT/ NZZ
Knatsch am Bundesstra fgericht
Statt Amtsinhaber Giorgio Bomio wählt das Kollegium Roy Garré
Ein Kritiker von Bundesanwalt
MichaelLauber wird in einer
internenWahl nicht als Präsident
der Beschwerdekammer
bestätigt. In denFraktionen sorgt
das umstritteneWahlgeschäft
für hitzige Diskussionen.
MARCEL GYR
DieWahl ins Präsidium der drei Kam-
mern am Bundesstrafgericht in Bellin-
zona ist im Normalfall eineRoutine-
angelegenheit. Zumeist ist man froh,
wenn sich genügend Kandidaten für das
Amt zurVerfügung stellen. Diesmal war
das anders: Bei derWahl zum Präsiden-
ten derBeschwerdekammerfürdiekom-
menden zweiJahre wurde der bisherige
Amtsinhaber nicht wiedergewählt.
Das bestätigen zwei unabhängige
Quellen gegenüber der NZZ. Die Nicht-
wiederwahl ist brisant, weil es sich beim
unterlegenen Kandidaten um Giorgio
Bomio handelt.Bisvor kurzem war der
langjährige Bundesstrafrichter in der
breiten Öffentlichkeit kaum bekannt.
Das ändertesich,als Bomio MitteJuni als
Vorsitzender eines Dreiergremiums den
Bundesanwalt MichaelLauber in zwei
Fifa-Verfahren für befangen erklärte.
AlsFolge davon mussteLauber in die-
senVerfahren in denAusstand treten.
DerTessiner Bomio, der am Bun-
desstrafgericht die SP vertritt, war vor
zweiJahren zum Präsidenten der Be-
schwerdekammer gewählt worden. Eine
Amtszeit dauert zweiJahre.Üblich ist,
dass der Präsident einmal wiedergewählt
wird. Nach vierJahren ist Schluss, das
Reglement lässtkein weiteres Mandat
zu.Dass ein amtierender Präsident, der
erneut kandidiert, nichtwiedergewählt
wird, gab es am Bundesstrafgericht ver-
mutlich noch nie.
Stattdessen wähltedas Kollegium –
alleRichter und Richterinnen des Bun-
desstrafgerichts–Roy Garrézum Präsi-
denten der Beschwerdekammer. Garré
ist ebenfallsTessiner, wie Bomio gehört
er der SP an. Partei- oder sprachpolitische
Überlegungenkönnen alsokeineRolle
gespielt haben. Ob der Gerichtsentscheid
von Mitte Juni gegenLauber, den Bo-
mio zusammen mit zwei Richtern der
SVP fällte, eineRolle bei dessen Nicht-
wiederwahl spielte,ist ungewiss.Bereits
zuvor soll es imTeam zu Meinungsver-
schiedenheiten gekommen sein.
Die interneWahl am Bundesstraf-
gericht,die bisher nichtkommuniziert
wurde, erfolgte bereits MitteAugust –
rund zwei Monate nach dem folgenrei-
chen Entscheid gegenLauber. Die Ge-
richtskommission desParlaments hat
später ihre Empfehlung, Lauber nicht
wiederzuwählen, imWesentlichen auf
diesen Entscheid abgestützt: Demnach
stellten die nicht protokolliertenTref-
fen mitFifa-Präsident Gianni Infantino
einenVerstoss gegen die Strafprozess-
ordnung dar; imWeiteren habeLauber
mit den informellen Meetings den An-
schein der Befangenheit erweckt.
JuristischeScharmützel
Im Anschluss an den Gerichtsent-
scheid ist es zu verschiedenen juristi-
schen Scharmützeln gekommen. Bun-
desanwaltLauber warf Bomio seiner-
seits Befangenheit vor, zudem gelangte
er – ohne Erfolg – mit einemRevisions-
gesuch an die Berufungskammer des
Bundesstrafgerichts.Ausgelöst hatte das
Ganze einRapport desBaselbieter SP-
Ständerats ClaudeJaniak, eines Befür-
worters vonLaubersWiederwahl.Janiak
warf Bomio vor,erhabe sich bereits im
Vorfeld des Gerichtsentscheids negativ
über den Bundesanwalt geäussert – was
ein Gericht späterrelativierte.
Mitten in diesen Querelen will die SP-
Fraktion amkommenden Dienstageine
Empfehlung für odergegen eineWie-
derwahlLaubers beschliessen.Dass der
Knatsch am Bundesstrafgericht mit der
Nichtwiederwahl Bomios in dieFrak-
tion getragen wird, dafür dürfte alleine
schon jene PR-Agentur sorgen, die be-
reits seitJuli fürLauber tätig ist: Le-
mongrass Communications aus Zürich.
UnterFederführung vonPeter Hart-
meier, einem ehemaligen Chefredaktor
des«Tages-Anzeigers», lobbyiert diePR-
Agentur für eineWiederwahl des amtie-
renden Bundesanwalts.Unteranderem
sollsie eine wesentlicheRolle dabei
gespielt haben, dass dieSVP-Fraktion
ihre Meinung zuletzt um180 Grad ge-
ändert hat: Die anfänglich klare Mehr-
heit gegenLauber verwandelte sich
innert wenigerWochen in eine mindes-
tens ebenso deutliche Mehrheit für ihn.
Viele sind nochunschlüssig
Bei der Abstimmung am vergangenen
Dienstag sollen allerdings einige ge-
wichtige Fraktionsmitglieder gefehlt
haben, was jetzt parteiintern für Dis-
kussionen sorgt. Zureden gibt auch das
Abstimmungsverhalten einesSVP-Mit-
glieds der Gerichtskommission: Dort
soll es sich gegen eineWiederwahlLau-
bers ausgesprochen haben, eineWoche
später in derFraktion aber dafür.
Das Beispiel zeigt, wiedieParla-
mentarier nach wie vor um einen Ent-
scheid ringen.Auch wenigeTage vor der
geplantenWahl amkommenden Mitt-
woch sind sich viele noch nicht schlüssig,
welches das kleinere Übel ist: den ange-
schlagenenLauber, der sich rhetorisch
hervorragend schlägt, trotz allenVor-
würfenfür eine dritte Amtszeit zu wäh-
len; oder unter die Affäre einen Schluss-
strich zu ziehen und mit neuen Kräften
einen Neuanfang lancieren.
Moderation:
Filippo Leutenegger
Wahlarena:
Istder Sozialstaat
am Ende?
Hans-Ulrich Bigler
Nationalrat FDP/ZH
Gregor Rutz
Nationalrat SVP/ZH
YvonneFeri
Nationalrätin SP/AG
Lorenz Hess
Nationalrat BDP/BE
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