Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

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16 SCHWEIZ Samsta g, 21. September 2019


Liebäugeln mit dem Ex-Zockerparadies


Lega-Staatsrat Norman Gobbi zieht einen Anschluss vonCampione d’Italia an die Schweiz in Betracht


PETERJANKOVSKY, BELLINZONA


Campione d’Italia – dieser Name stand
für das wohl schönste und reichste
Zockerparadies auf italienischem
Boden, umgeben vonTessinerTerrito-
rium. Über etlicheJahrzehnte finan-
zierte sich die italienische Exklave am
Luganersee praktisch nur durch ihre
Spielbank. Doch dann kam der 27.Juli
20 18:Wegen Missmanagements musste
die Spielbank von Campione ihreTore
schliessen. Und diese bleibenauf unbe-
stimmte Zeit zu. Die Exklave ist seither
pleite und wird von einemKommissär
verwaltet, weil niemand mehr Bürger-
meister oder Gemeindeparlamentarier
sein will. Campione hofft nun auf die
baldige Überweisung der Nothilfe von
maximal fünf Millionen Euro jährlich,
welche der italienische Senat vor einiger
Zeit per Dekret beschlossen hat.
Punkto Infrastruktur ist Campione
von der Schweizabhängig. Sowird unter
anderem die Abwasserklärung und die
Müllentsorgung vonTessiner Dienst-
leistern besorgt. Die Schulden wach-
sen und belaufen sich mittlerweile auf
etwa vier MillionenFranken – und seit
Juli hält dieTessiner Kantonsregierung
einenTeil des Grenzgänger-Finanzaus-
gleichs für Italien zurück, bis die Schul-
den beglichen sind.Jedoch werden die
dringend notwendigen Dienstleistungen
für Campione weiterhin erbracht.Der
KantonTessin zahlt auch nach wie vor
Arbeitslosengelder aus.


Keineneue Idee


DieserTage sorgte derTessinerRegie-
rungsrat Norman Gobbi, Mitglied der
Lega, für Schlagzeilen. In einem kürz-
lich veröffentlichten Artikel der italie-
nischenTageszeitung «Corriere della
Sera» erklärte erFolgendes: Angesichts
der prekären Situation Campiones und
der engenVerflechtung mit der Eid-
genossenschaftkönne die Angliederung
Campionesandie Schweiz eine über-
legenswerte Option sein. Ein solcher
«Abkauf» von Italienerscheine auch
deswegen denkbar, weil die italienische
Exklave politisch führungslos und ohne
mittelfristigePerspektiven sei.
So brandneu ist diese Idee nicht.Just
vor einemJahr äusserte sich der Chef des
Eidgenössischen Departementesfüraus-
wärtige Angelegenheiten (EDA),Igna-
zioCassis, ebenfalls zu dieserThematik.
Das tat er auf eine parlamentarische
Anfrage desTessiner CVP-National-
rates MarcoRomano hin: Dieser wollte
damals wissen, ob der Bund möglicher-
weise dasThema einer Angliederung


Campiones an die Schweiz in Gesprä-
chen mit Italien thematisieren würde.
Bundesrat Cassis antwortete, dies sei
unter Umständen vorstellbar – doch zu-
vor müsste eine entsprechende Anfrage
seitens derTessinerRegierungvorliegen.
Auf Anfrageerklärt das EDA,bisherkei-
nen solchen Antrag erhalten zu haben.
Den Campionesen selber scheint die
Idee, Teil der Schweiz zu werden, sehr zu
gefallen. Am vergangenen 27.Juli, als sie
ihre Gemeinde während einer Demons-
tration symbolisch zu Grabetrugen, hat-
ten vieleTeilnehmer einen Anschluss
ansTessinals denAusweg aus der
schweren Krise bezeichnet. Im Übrigen
äusserten in den letztenJahren so einige
italienische Gemeinden, die an dasTes-
sin grenzen, den Wunsch nach einer Ein-
gliederung in die Schweiz.

Bald im EU-Zollgebiet


Dieses Liebäugeln mit dem Ex-Zocker-
paradies verwerfen italienischePolitiker
inRom wie auch in derRegion Lombar-
dei natürlich heftig, wie den Medien zu
entnehmen war.Doch sie werden sich
mit der engen Beziehung der Schweiz

zu Campione bald aus einem pragmati-
schen Grund beschäftigen müssen:Per


  1. Januar 2020 wird CampioneTeil des
    EU-Zollgebiets. Daher gilt es, offene
    Fragen punkto Besteuerung undVe r-
    zollung zu klären.Auch ist noch unge-
    wiss, welche Dienstleistungen, die der-
    zeit von der Schweiz erbracht werden,
    indirekt vom Übergang Campiones be-
    troffen und neu zu verhandeln wären –
    oder gar hinfällig würden.
    Laut demTessiner Staatsrat Gobbi
    waren offenbar mit der alten, vor weni-
    gen Wochen abgetretenen italieni-
    schenRegierung Gespräche im Gang,
    um Campiones Beitritt zum EU-Zoll-
    raum zu verschieben. Denn die Behör-
    den der italienischen Exklave würdenes
    nicht schaffen, alle nötigenVorkehrun-
    genrechtzeitig zu treffen, betont Gobbi.
    In diesem weit gefassten Zusam-
    menhangkommt natürlich auch das
    neue Grenzgängerabkommen mit Ita-
    lien ins Spiel. Es würdeRom, den italie-
    nischen Grenzgemeinden und in gerin-
    geremAusmass auch demTessin Mehr-
    einnahmen bescheren.DasAbkommen
    ist 20 15 von Bern undRom paraphiert
    worden – doch während die Schweiz zur


Unterzeichnung bereit ist, scheint es Ita-
lien diesbezüglich nicht eilig zu haben.
Weil sich nun dieVorbedingungen
für das Abkommen seit 20 15 geändert
hätten, will Gobbi eine Neuverhandlung.
Diese sollte die Möglichkeit der einseiti-
genAufkündigung des Abkommens
durch die Schweiz thematisieren. Um
hierbei mehr Druck auszuüben, möchte
der Chef desTessinerJustiz- undPolizei-
departements die Möglichkeit nicht aus-
schliessen, dieAuszahlung des Grenz-
gänger-Finanzausgleichs an Italien zu
blockieren. So geschah es unter ähn-
lichen Begleitumständen bereits 2011,
als die damalige Kantonsregierung die
Hälfte des Betrages zurückhielt.
Die alteRede vomTessiner Malaise
gegenüber Italienkönnte jetzt wieder
Auftrieb erhalten. Denn für Unmut
sorgt nicht nur das Zögern Italiens, das
Abkommen zu unterschreiben. Die Zahl
der«billigen und willigen» Grenzgänger
hat mit über 66 000 Personen einen
neuen Höchststand erreicht; fast jeder
dritte Arbeitsplatz imTessin wird von
einem «Frontaliere» belegt. So wächst
dieFurcht vor noch mehr Druckauf die
Tessiner Löhne und Arbeitsbedingungen.

Letzte Zuckungen einer gesteuerten Milchwirtschaft


Wegen tiefer Preise sol len in der Milchbranche wieder Kontingente und Mindestpreise eingeführt werden


DAVID VONPLON


32 Jahre lang war die Milchwirtschaft
eine Planwirtschaft. Der Bund schrieb
denBauern vor, welche Mengen Milch
sie pro Jahr liefern durften – und wel-
chen Preis sie dafür bekamen. Die staat-
liche Steuerung sorgte fürVerlässlich-
keit. Sie verhinderte aber, dassBauern
ihre Betriebe modernisierten und die
Produktionskosten senkten. Der Bund
musste Exportsubventionen in Milliar-
denhöhe aufwenden, um die Milchseen
und Butterberge abzubauen.


Drei Standesinitiativen


Gut 10Ja hre ist es her, seit sich die
Schweiz von diesemSystem verabschie-
det hat. Doch habenBauernvertreter
seither inregelmässigenAbständen ver-
sucht, dasRad der Zeit zurückzudrehen
und wieder eine Mengensteuerung einzu-
führen. Die KantoneJura, Freiburg und
Genf nehmen nun noch einen Anlauf. Mit
Standesinitiativen wollen sie die Milch-
wirtschaft wieder in staatliche Hände zu-
rückzuführen, in unterschiedlicher Inten-


sität. Nächsten Dienstag entscheidet der
Ständerat über die Initiativen. Es dürfte
sich um das letzteAufbäumen einer
staatsgläubigenLandwirtschafthandeln,
die ihr Heil in Milchquoten und staat-
lichen Mindestpreisen sieht.
Dass sich diePolitik in den heute über
weiteStrecken liberalisierten Märkten
solchenForderungen gegenübersieht,
liegt daran, dass die Milchbranche seit
Jahren nichtaus der Krise findet. Seit
demTiefststand imJahr 20 16 haben sich
die Preise zwar etwas erholt. Bei vielen
Bauern geht dieRechnung aber nicht
auf. Fünf Prozent der Milchbauern stei-
gen jedesJahr aus. «Die Standesinitiati-
ven sindAusdruck der verbreitetenVer-
zweiflung in der Milchbranche», sagt
MartinRufer vomBauernverband. «In
dieserSituation braucht es ein politisches
Signal, damit sich endlich etwas ändert.»
Im Zentrum der Kritik derBauern
steht die Branchenorganisation Milch
(Bom), welche die Richtpreise für die
Milch vorgibt. «Obwohl sich die Butter-
lager aufTiefstand befinden und im um-
li egendenAusland die Preise anziehen,
haben sich die Preise in der Schweiz in

der erstenJahreshälfte nicht bewegt»,
sagtRufer. «Das zeigt, dass es im Instru-
mentarium der Bom Lücken gibt.» Es
sei nötig, dass der Bundesrat bei der mit
Produzenten- undVerarbeitern besetz-
ten Branchenorganisation interveniere.

Für mehr Planungssicherheit


Gleichsam als Gegenvorschlag zu den
teilweise radikalen Standesinitiati-
ven hat dieWirtschaftskommissiondes
Ständerats imJuni eine eigene Motion
eingereicht, die ebenfalls die Planungs-
sicherheit derBauern erhöhen soll. Sie
fordert etwa, dass im Standardvertrag
für denVerkauf vonRohmilch Men-
gen- und Preiszusicherungen verankert
werden, die über einen längeren Zeit-
raum gültig sind. Schliesslich sollen an
der heutigen Segmentierung der Milch
nachVerwendungszweckKorrekturen
vorgenommen werden.Konkret sollen
dieBauern nicht länger gezwungen wer-
denkönnen, günstige Milch für Milch-
produkte ohne Grenzschutz zu liefern.
Die Bom setzt sichgegendieseForde-
rungen nicht mit Händen undFüssen zur

Wehr:Hauptsache, eine staatliche Men-
gensteuerung kann abgewehrt werden.
Geschäftsführer StefanKohler warnt da-
vor, die Lieferung ungeschützter Indus-
triemilch derFreiwilligkeit zu unter-
stellen. Die heutige Lösung beruhe auf
einemKompromiss. «Löst man einenTeil
diesesKompromisses heraus, bricht das
Ganze zusammen.» Die stärkere Preis-
fixierung sei im Übrigen nicht im Inte-
resse derMilchbauern: Sie führedazu,
dass die marktmächtigen Molkereien tie-
fere Preise veranschlagten, um sich gegen
Marktschwankungen abzusichern.
Branchenvertreter bezweifeln, dass
sich der Ständerat tatsächlich für eine
Rückkehr zur alten Quotenregelung
ausspricht. Allerdingsstimmte auchder
Nationalrat vor einemJa hr ziemlich
überraschendeiner Mengensteuerung
zu.Folgt ihm nun die kleine Kammer,
muss der Bund über die Bücher. Staat-
lich fixierte Mindestpreise undKontin-
gente lassen sich nicht mit zumTeil ge-
öffneten Märkten vereinen. Letztlich
bliebe dem Bund wohlkeine andere
Wahl, als die Grenzen beim Käse oder
beimJoghurt zu schliessen.

Dasvon MarioBotta erbaute Kasino dominiert das Siedlungsbild der italienischen Exklave Campione d’Italia. SIMONTANNER / NZZ

RICHTIGSTELLUNG


DieRedaktion weist darauf hin, dass
Rechtsanwalt BernardRambert in der
Ausgabe vom15.April 20 19 zu Unrecht
bezichtigt wurde,Walter Stürm Infor-
mationen zu dessen Gefängnisausbruch
übermittelt zu haben.

Bundesrat gegen


Personalbremse


Geringer Beitrag zur Minderung
von Regulierungskosten erwartet

(sda)·EinePersonalbremse für Geset-
zeserlasse wäreindenAugen des Bun-
desrates unverhältnismässig. Zur Min-
derung der imParlament wiederholt
kritisiertenRegulierungskostenkönnte
sie nichtsWesentliches beitragen.Das
schreibt der Bundesrat im Bericht zu
einem FDP-Postulat.In dem amFreitag
ve rabschiedeten Bericht gibt der Bun-
desrat weiter zu bedenken, dass eine
Personalbremse imRechtsetzungspro-
zess eine hohe Hürde sein und denPar-
lamentsbetrieb massiv beeinträchtigen
könnte. EinVertrauensverlust der Bür-
ger gegenüberParlament und Bundes-
behördenkönnte eineFolge davon sein.
Bestellt hatden Bericht der National-
rat mit einemPostulat vonPetra Gössi
(fdp., Schwyz). Die FDP-Präsiden-
tin hatte argumentiert, dass dieRegu-
lierungsflut dieWirtschaft lähme, und
höhere Hürden fürVorlagen verlangt,
die die Einstellung von mehrPersonal
nötig machen. Sie forderteeinePerso-
nalbremse, analog zurAusgabenbremse.
Bereits imRat hatte sichFinanzminis-
ter Ueli Maurer gegen dasPostulat aus-
gesprochen und aufdie laufend neuen
Aufgaben fürdie Bundesverwaltung hin-
gewiesen. Im Bericht beantragt der Bun-
desrat nun, dasPostulat abzuschreiben.
Der Bericht wirft dieFrage auf, ob
als Mittel gegen dieRegulierungsdichte
nicht eher eine «Aufgabenbremse» als
die verlangtePersonalbremse taugen
würde. DieAufgabenbremsekönnte ge-
zogen werden, wenn dasParlament mit
einem Entscheid der Bundesverwaltung
neueAufgaben übertragen will.

IN KÜRZE


Ausländerausweisekünftig
im Kreditkartenformat
(sda)·Ausländerausweise werden ab
dem1. November nach und nach durch
neueAusweise im Kreditkartenformat
ersetzt. Der Bund plant eine gestaffelte
Einführung; bis 30.Juni 2021 sollen die
betroffenen rund 1,8 MillionenPapier-
ausweise erneuert sein. Der Bundesrat
hat die für die Umstellung nötigenVer-
ordnungsänderungen verabschiedet.Die
neuenAusweise sind nach Angaben des
Staatssekretariats für Migration nicht
nur handlicher als die heutigen, son-
dern auch sicherer vorFälschungen und
moderner. BiometrischeDaten enthal-
tensie nicht. Die neuenAusweisekom-
men später als zunächst geplant: Beim
Start derVernehmlassung war von einer
Einführung zwischen1. Juli 20 19 und


  1. Januar2021 dieRede gewesen.


Neue Regeln mit den USA
in der Steueramtshilfe
(sda)·Ab sofort gelten neue Re-
geln in der Steueramtshilfe zwischen
der Schweiz und den USA. Es wird
nicht mehr zwischen Steuerhinterzie-
hung und Steuerbetrug unterschieden,
weder bei Einzel- noch bei Gruppener-
suchen. NachjahrelangerVerzögerung
ist amFreitag ein Änderungsprotokoll
zum Doppelbesteuerungsabkommen in
Kraft getreten. StaatssekretärinDaniela
Stoffel und US-Botschafter EdwardMc-
Mullen haben in Bern dieRatifikations-
urkunden ausgetauscht.Das geänderte
Abkommen erleichtert es den US-Be-
hörden, beiVerdacht auf Steuerhinter-
ziehung bei den Schweizer Behörden In-
formationen einzuholen.
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