Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

(nextflipdebug5) #1

Samstag, 21. September 2019 ZÜRICH UND REGION 17


Aktivisten wollen während der Klimawoche


den Dialog mit Bevölkerung und Politikern suchen SEITE 19


Nicole Barandun will mit ihrer Ständeratskandidatur


die schwächelnde kantonale CVP stärken SEITE 21


«Wir müssen Eigentum entwerten»


SP-Präsident Marco Deno th wi ll in der Stadt Zürich massiv in di e Grund- und Bodenrechte eingreifen


HerrDenoth, Sie ärgern sich über die
Entwicklung auf dem Stadtzürcher
Wohnungsmarkt. Was ist denn so
schlimm?

Es braucht endlich mehr bezahlbare
Wohnungen in Zürich.Das ist einAuftrag
der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger,
so haben sie es in der Gemeindeordnung
verankert. Bis 2050 solljede dritteWoh-
nung in der Stadt gemeinnützig vermie-
tet werden. Die Stadt unternimmt zwar
viel, um dieses Drittelsziel zu erreichen.
Doch der Handlungsspielraum reicht
nicht mehr aus.Wir haben eine Art glä-
serne Decke erreicht. Die Mieten steigen,
ganze Bevölkerungsgruppen werden aus
ihren Quartieren verdrängt.Das ist ein
riesiges Problem.


Hauseigentümer müssen ihreInvesti-
tionen ja irgendwie amortisieren. Etwa
dann,wenn sie ihre Liegenschaft nach
neuen Umweltstandards sanieren.

Ja, natürlich. Gegen leichte Mietzins-
erhöhungen spricht in solchenFällen
auch nichts. Was aber nicht geht, ist,
dass sich Mietzinse nach einer Luxus-
sanierung oder einem Umbau verdop-
peln.Von solchenFällen höre ich immer
wieder. Das ist einfach nur unanständig.


Was schlagen Sie vor?
Schon heute sorgen wir von der SP da-
für,dass auf städtischem Land aus-
schliesslichkostengünstigeWohnungen
entstehen und dass es in städtischem
Besitz bleibt.Wenn Gestaltungspläne
beantragt werden, bringen wir immer
dasThema Gemeinnützigkeit auf den
Tisch.Tr otzdem dreht sich die Immobi-
lienpreisspirale munter weiter. So kann
es einfach nicht weitergehen.Darum bin
ich zu der Überzeugung gelangt, dass
der einzigeWeg für mehr bezahlbare
Wohnungen nicht ohne massive Ein-
griffe in Grund- und Bodenrechte zu er-
reichen sein wird. Genauso braucht es
härtereMassnahmen, um gegen Gentri-
fizierung undVerdrängung vorzugehen.


«Massive Eingriffe», «härtere Massnah-
men », das tönt nach einer Drohung.

Es gibt in Zürich sehr viele anständige
Vermieter.Aber es gibt eben auch die
anderen. Dort müssen wir Druck auf-
se tzen.Wirklich griffige Mittel fehlen
heute.Wir müssen Liegenschaftsbesitzer


in besonders sensiblen Gebieten animie-
ren oder im Notfall auch dazu zwingen,
dass sie die Gentrifizierung nicht wei-
ter anheizen.


Was schwebt Ihnenvor?
München verfolgt seit über 30Jahren
ein sehr interessantes Modell, die so-
genannten Erhaltungssatzungen. Die
Stadt legt ohneVorankündigung ge-
wisse Gebiete fest, in denen dann spe-
zielleRegeln gelten.FürAbbruch, Um-
bauten,Sanierungen undWechsel von
Miet- zu Eigentumswohnungen braucht
es in diesen Zonen eine besondereGe-
nehmigung.Auch wenn ein Eigentü-
mer seine Liegenschaft verkaufen will,
muss er dies zuerst von der Stadt ge-
nehmigen lassen –konkret vom dorti-
gen Sozialdepartement. Die Stadt hält
immer einVorkaufsrecht.Falls sie die-
sesRecht nicht wahrnimmt, handelt sie
mit dem Eigentümer einenVertrag aus,
worin festgehalten ist, dass in der Lie-
genschaft auch in Zukunft günstig ge-


wohnt werden muss.So wird die an-
gestammte sozialeDurchmischung im
Quartier geschützt. Die Münchner um-
schreiben das Prinzip auch mit «Milieu-
schutz».Für Zürichbrauchenwir wohl
einen unverfänglicheren Namen,«Ver-
drängungsschutz» zum Beispiel.

Dann müsste in der Stadt Zürich also
künftig bei jeder Handänderung und
jedem Umbau der Sozialvorsteher
Raphael Golta seinen Segen geben?
So ist es in München gelöst. Ob es nun
Raphael Golta oder ein spezielles Gre-
mium wäre, müsste man dann schauen.
Bestechend finde ich den Gedanken,
dass beiVerkäufen, Umbauten und
Sanierungen die sozialeFrage stets mit-
gedacht wird.

Da werden doch Dinge vermischt, die
gar nichts miteinander zu tun haben.Am
Ende geht es einfach darum, Hauseigen-
tümern das Leben schwerzumachen.
Die Stadtentwicklung sollte nicht ein-
fach nurauf bauliche Richtlinien ab-
gestützt werden. Schon heute wäre im
kantonalen Planungs- undBaugesetz
eigentlich festgehalten, dass in soge-
nannten Quartiererhaltungszonen die
bestehende «Nutzungsstruktur» erhal-
ten bleiben soll. Neben denkmalschüt-
zerischen Aspekten sollte in solchen
Gebieten auch das soziale Gefüge eines
Quartiers nicht verändert werden, finde
ich. In der heutigen Bewilligungspraxis
wird dasThema aber leider ausgeklam-
mert.Das sollte sich ändern.

Nennen Sie bitte einBeispiel.
Nehmen wir den Kreis 5. Der vibrierte
früher richtig, heute ist er an vielen Or-
ten langweilig.Es wird viel und teuer
saniert und umgebaut. Ein neue, wohl-
habende Klientel zieht hin, alteingeses-
sene Quartierbewohnerkönnen sich die
schickenWohnungen nicht mehr leisten.
Wenn wir zumindest einenTeil des Krei-
ses unter eine Erhaltungssatzung stellen
würden,könnten wirdieser Entwicklung
etwas entgegensetzen.

Sie stellen das Gebiet also quasi unter
eine «soziale Käseglocke». Eine bau-
liche Entwicklung würde so praktisch
verunmöglicht.
Verunmöglicht sicher nicht.Aber
dr inglicheFragen wie Verdrängung

und Gentrifizierung würde endlich ein
höherer Stellenwert beigemessen.Aus-
geschieden würden ohnehin nur Ge-
biete, in denenkeine grossen Neubau-
ten mehr möglich wären, sondern nur
Sanierungen.

Gleichzeitig wird überall gefordert, dass
sich die Stadt nach innen verdichten soll.
Das würde mit solchen Schutzzonen
wesentlich schwieriger.
Mag sein. Aber alles ist besser, als
wenn heutige bezahlbareWohnun-
gen verschwinden.Wir haben immer
gesagt, dass wir grundsätzlich eine
Verdichtung gegen innen, also mehr
Dichte auch in bestehendenWohn-
quartieren, unterstützen – erstens aber
darf dies nicht zuVerdrängung von
bisherigen Bewohnerinnen und Be-
wohnern führen, und zweitens muss
ein angemessener Mehrwertausgleich
geleistet werden.

Mit einem solchen sozialen Heimatschutz
betreiben Sie doch einfach Klientelpoli-
tik. IhreWähler, die heute in günstigen
Wohnungen leben, haben die Garantie,
dass sie es auch in Zukunft tun können.
Mit Klientelpolitik hat dies gar nichts
zu tun. Bei Abstimmungen sprechen
sich immer 70 bis 80 Prozent der Bevöl-
kerung für unsereWohnpolitik aus.Alle
Zürcherinnen und Zürcher sollten in
einer bezahlbarenWohnung lebenkön-
nen – besonders die Schwächsten der
Gesellschaft: Seniorinnen, Alleinerzie-
hende undAusländer.

Pech haben dann nur all jene,die nicht
in einer solchen privilegierten Zone
wohnen.Ausserhalb steigen die Mieten
einfach noch mehr.
Das müsste zuerst erwiesen werden.
Wesentlich ist, dass angewissen Orten in
der Stadt die Mieten sicher nicht mehr
ins Unermesslichesteigen.Dann wäre
schon viel erreicht.

Funktioniert das Prinzip denn in
München? Es gilt immer nochals die
deutsche Grossstadtmit den höchsten
Mieten.
Ja, aber es stellt sich dieFrage, was pas-
siert wäre,wenn die Stadt diese Mass-
nahme nicht ergriffen hätte. Dann wären
die Durchschnittsmieten vermutlich
noch höher.In den Gebieten mit Erhal-

tungssatzung sind die Mieten jedenfalls
tiefer als in solchen ohne.

München liegt in Deutschland und
Zürich in der Schweiz. Die rechtlichen
Voraussetzungen für Ihre Ideewerden
kaum gegeben sein.
Tatsächlichist im deutschen Grund-
gesetz ein ganz entscheidenderPassus
festgehalten, der in unserer Bundesver-
fassung fehlt:Eigentumverpflichtet,und
sein Gebrauch soll demWohl derAll-
ge meinheit dienen.Ausdiesem Prinzip
leitet sich die Münchner Erhaltungssat-
zung ab. So einen Grundsatz braucht es
auch in der Schweiz. Allenfallsreicht
aber auch schon eine Änderung auf kan-
tonaler Ebene. Die Städte sollen mehr
Spielraum erhalten, um Probleme wie
Gentrifizierung zu bekämpfen.

Im Wahl-Podcast der SP haben Sie
kürzlich gesagt, dass Sie das Drittelsziel
in Zürich notfalls auch mit Enteignun-
gen, wie sie derzeit inBerlin angedacht
sind, durchsetzenwollen.
Ich wurde dort gefragt, was ich täte,
wenn ich einen Entscheid undemokra-
tisch – quasi als absolutistischer Mon-
arch von Zürich – umsetzenkönnte. Nun
leben wir aberineiner Demokratie,und
das ist natürlich auch gut so. Dass grosse
Immobilienfirmen wie in Berlin ver-
gesellschaftet werden sollen, halte ich
in Zürich fürkeine Option. Dies passt
nicht zu unserer Geschichte und unse-
remRechtssystem.

Trotzdem forderte IhreJungpartei, die
Juso, jüngst die «kompletteVergesell-
schaftung von Immobilien» in Zürich.
Haben Sie sich die Jungmannschaft
schon zur Brust genommen?
Das muss ich nicht. DieVorschläge der
Juso sind immer sehr gut und wertvoll,
um Diskussionen anzustossen. Meine
Meinung ist aber, dass wir vorerst nicht
enteignen, sondern Grundeigentum
entwerten sollten. Genau dies geschähe
mit Massnahmen à la Münchner Erhal-
tungssatzung. Die enormeWertsteige-
rung, die viele Grundstücke in der Stadt
Zürich in den letztenJahren erfahren
haben, haben die Eigentümer zu grossen
Teilen dem Staat zu verdanken.Darum
ist es nichts alsrecht, wenn derWert nun
wieder sinkt.
Interview: DanielFritzsche

Jegliche Sanierung in der Stadt Zürichsoll laut MarcoDenothvorh er vomSozialdepartement bewilligtwerden. ADRIAN BAER/NZZ

Marco Denoth
Gemeinderat und
Präsident der
NZZ SP Stadt Zürich

Daniel Jositsch


und Ruedi Noser


mit Vorsprung


Umfrage zu de n Ständeratswahlen


mvl. · Das Feld der Anwärter auf einen
Sitzim Ständerat ist breit. Den Bis-
herigenRuedi Noser (fdp.) undDaniel
Jositsch (sp.) machen unter anderemRo-
gerKöppel (svp.),Tiana Angelina Moser
(glp.) und MarionnaSchlatter (gp.) die
Plätze streitig. Miteinem zweitenWahl-
gang wird gerechnet. Es gibt Beobach-
ter, die bei einemsolcheneinen engen
Ausgang erwarten. Diese Einschätzung
ist allerdings beinahe schon widerlegt.
Eine Umfrage, die dieForschungsstelle
Sotomo imAuftrag des«Tages-Anzei-
gers» erstellt hat, zeigt, dass sich die
Bisherigen inrelativer Sicherheit wie-
gen dürfen.
Jositsch würde demnach bereitsim
erstenWahlgang gewählt. 63 Prozent
der Stimmberechtigten würden seinen
Namen auf den Zettelschreiben.Das ab-
solute Mehr läge bei 46,2 Prozent.Köp-
pel kämeauf 31 Prozent,was etwa dem
SVP-Wähleranteil entspricht. Moser (
Prozent) liegt weit hinter Noser (41 Pro-
zent) zurück. Die Befragung fand zwi-
schen dem 5. und dem16.September auf

derWebsite des«Tages-Anzeigers» statt.
DieAngabenvon 30 00 Stimmberechtig-
tenkonnten für dieAuswertung verwen-
det werden. DieDaten wurden von der
Forschungsstelle Sotomo der Universi-
tät Zürich nachräumlichen (Wohnort),
soziodemografischen (Alter, Geschlecht,
Bildung) und politischen (Stimm- und
Wahlverhalten,regionaleParteienstruk-
tur) Kriterien gewichtet. Der Stichpro-
benfehler beträgt +/–1,8 Prozentpunkte.
Interessant ist dieAusgangslage für
einen zweitenWahlgang ohneJositsch.
Am engsten wären die Abstände,wenn
alle verbliebenen Spitzenkandidaten an-
treten würden, aber auch in diesem Sze-
nario läge Noser 12 Prozentpunkte vor
Köppel und deren 19 vor Moser. Selbst
einRückzug von Schlatter würde die
Chancen Mosers nicht entscheidend
steigern:Dann läge Noser 13 Prozent-
punkte vor Moser.
Die Befragung zeigt, dassJositsch
in den eigenenReihen,aber auch bei
denFDP-Wählern eine hohe Zustim-
mung geniesst. Die grünliberale sowie
die grüne Kandidatin erreichen derweil
wenig Zuspruch über dieParteigrenzen
hinweg; Schlatter wird überdiesnurvon
62 Prozent der Grünen unterstützt. Of-
fenbar fehlt der Glaube an die Erfolgs-
aussichten der eigenen Kandidatin.

QUELLE: FORSCHUNGSSTELLE SOTOMO NZZ Visuals/joe.

KantonaleWähleranteilefür den Ständerat,
in Prozent

DanielJositschweit vo raus


Umfragen sind immer mit Unsicherheit behaftet, die
Fehlermargen der vorliegenden Umfrage sind aber
nicht bekannt.

NikGuggerNikGuggerEVPEVP

NicoleNicole BarandunBarandunCVPCVP

MarionnMarionnaSchlatteraSchlatterGPSGPS

Tiana Angelin aMoserTiana Angelina MoserGLPGLP

RogerKöppelRogerKöppelSVPSVP

RuediNoser*RuediNoser*FDPFDP

DanieDanielJositsch*lJositsch*SPSP

*Bisher im Amt.

6363

4141

3131

2121

1515

55

44

STÄNDERATSWAHL


  1. Oktober 20 19

Free download pdf