Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

(nextflipdebug5) #1

Samstag, 21. September 2019 ZÜRICH UND REGION21


Wahlkampf durchAuftritt e–Nicole Barandun besucht eine Gummifabrik in Illnau und mischt sichunter Gewerbetreibende.


Die den Böen trotzt


Die kantonale CVP-Präsidentin, Nicole Barandun, sieht ihre Ständeratskandidatur als Dienst an der Partei


JOHANNA WEDL (TEXT) /
CHRISTOPH RUCKSTUHL (BILDER)


Sie ist spät dran, aber sie hat es gerade
nochrechtzeitig geschafft. Sie war acht
Stunden im Büro,begleitete ihre17-jäh-
rigeTochter zum Arzt, blieb im Stau ste-
cken. Und jetzt, kurz vor 18 Uhr, ist auch
nochWahlkampf angesagt. NicoleBaran-
dun macht dieRunde und stellt sich mit
Händeschütteln bei jedem vor. Gegen
zwanzigPersonen sind an diesem Spät-
sommerabend im Industriegebiet von Ill-
nau-Effretikon zusammengekommen, um
einenFamilienbetrieb zu besichtigen. Die
Ortssektion der CVP hat eingeladen, bis
auf ein jungesPaar sind alleTeilnehmer
Senioren.NicoleBarandun steht amRand
der Gruppe und lauscht denAusführun-
gen. Sie ist still, ihr Gesicht ist angespannt,
sie wirkt müde.
«Ich hätte nicht erwartet, dass das
Wahljahr so streng wird»,sagtBarandun,
«ich habe mich etwas übernommen.» Sie
setzt dabei mehr auf persönliche Präsenz,
zum Beispiel durchAuftritte anPodien
oder im Strassenwahlkampf, als auf den
Auftritt in sozialen Netzwerken. Das ist
zwar zeitintensiv, aus ihrer Sicht aber er-
folgversprechender. Etwas über160 Fol-
lower hat sie aufTwitter, «NicoleBaran-
dun ins Bundeshaus» nennt sie ihrenFace-
book-Account.


Nettsein genügt nicht


Bestärkt in der Absicht, zu kandidieren,
hat sie ausgerechnet Kathy Riklin. «Das
musst du unbedingt machen», habe sie ihr
geraten.Dabei ist diese Loyalität nicht
selbstverständlich. Zuletzt gab es Disso-
nanzenzwischen dem CVP-Urgestein und
derParteileitung. Die 66-jährige Ricklin
wollte nach bald zwanzigJahren im Natio-
nalrat eine sechste Amtsperiode anhän-
gen, der CVP-Vorstand fand, sie sollte
ihren Sitzabgeben. Nun kandidiert sie auf
der Liste der ChristlichsozialenVereini-
gung und bringt ihrer Mutterpartei dank
einer Listenverbindung Stimmen ein. «Die
Chance ist sehr viel grösser, dass sie uns
zu einem zweiten Sitz verhilft, als dass sie
selbst gewählt wird», sagtBarandun.
Die 51-Jährige wird vonPolitikern jeg-
licher Couleur als ehrlich,konsensorien-


tiert und sachlich beschrieben. Sie hat die
CVP auf einen bürgerlicheren Kurs ge-
bracht, und unter ihrer Ägide gelang es
der Partei, den 2011 verlorenenRegie-
rungsratssitz 20 15 zurückzuerobern.
«Ich spreche offen an, was ich denke, bin
aber durchaus bereit,Positionenzu über-
denken», sagt sie. Das Bad in der Menge
zu suchen oder sich in denVordergrund
zu drängen, ist nicht ihreArt. Mit blosser
Nettigkeit alleinkommt man allerdings
nicht weiter.Wären mehr Ecken und Kan-
ten nötig, um erfolgreicher zusein? «Poli-
tik darf nicht nur der Selbstinszenierung
dienen.Wenn man mit dem Zweihänder
dreinfährt, wie sammelt man danndieVer-
letzten ein?»
Dabeikönne sie durchaus hartnäckig
bis aufsässig sein, sagt sie. Ein bürger-
licherPolitiker bezeichnetBarandun gar
als «wadenbeisserisch». Hervorgehoben
wird vonParteifreunden wie Gegnern
auch ihre Schlagfertigkeit. Diese hängt
möglicherweise mit ihrem Beruf zusam-
men. Als selbständige Anwältin vertritt
sie seit zwanzigJahren Klienten auch vor
Gericht und berät sie vor allem in fami-
lien- und erbrechtlichen Angelegenheiten.
EineehemaligeKundin attestiert ihr, ein-
fühlsam zu sein und eine hoheFachkom-
petenz zu haben.
Obwohl sie auf denersten Blick oft
ernst scheint, beschreiben sie jene, die sie
näherkennen, als offen und warmherzig.
Mit ihrkönne man Pferde stehlen. «Sie
ist auch einmal für einen Spass zu haben»,
sagt einParteikollege. Mit einem Bündner
verheiratet, istBarandun eine Ur-Stadt-
zürcherin geblieben. Sie ist in der Enge
aufgewachsen, wohnt mit ihrerFamilie
in Fluntern und arbeitet in einer Kanzlei
im Seefeld. Karriere und Kinder zu ver-
einbaren, sei für sie nie ein Problem ge-
wesen. Ihr Mann, ebenfalls selbständiger
Jurist, und sie hätten sich die Betreuung
und die Hausarbeit stets geteilt.Barandun
macht sich auch politisch stark für Gleich-
stellung, sie befürwortet zum Beispiel eine
Frauenquote inVerwaltungsräten.
NebstFamilie und Beruf nun also auch
nochWahlkampf. Zwischendurch sei ihr
schon der Gedanke gekommen, sie hätte
ohne die Kandidatur einen ruhigeren
Herbst gehabt.Aber derWahlkampf sei
auch eine Möglichkeit, ihr Netzwerk zu

erweitern. Dabei ist es nicht selbstver-
ständlich, dass sich die Kantonalpräsi-
dentin über dieses Amt hinaus exponiert.
Barandun musste in ihrer politischen Kar-
riere nämlich schon mehrere Niederlagen
einstecken.

Platz machen für Jüngere


Vor achtJahren misslang ihr dieWieder-
wahl in denKantonsrat, und im vergange-
nenJahr unterlag sieimVorfeld der Zür-
cher Stadtratswahlen in der parteiinternen
Ausmarchung Markus Hungerbühler. «Es
wäre gelogen, zu sagen, Niederlagen tun
nicht weh. Aber das auszuhalten, gehört
dazu», meintBarandun. Sie habe enorm
viel Zuspruch erfahren. «Ein parteiüber-
greifendesCare-Team hat mich wieder
aufgebaut.»Dass sie damals den Bettel
nicht hingeschmissen habe, rechne er ihr
hoch an, sagt einehemaliger Exekutivpoli-
tiker.Als Barandun eineWoche nach dem
Nominationsentscheid vor den kantona-
lenDelegierten auftrat, empfing sie der
Saal mit Standing Ovations. Die Erinne-
rung daran berührt sie auch mehr als zwei
Jahre danach noch tief.
Im Übrigen macht siekein Geheim-
nis daraus,dass ihreStänderatskandida-
tur auch dazu dienen soll, für die CVP den
zweiten Nationalratssitz zu halten. Dieser
wackelt gewaltig. Nach dem Spitzenkandi-
daten PhilippKutter, einem Bisherigen, ist
Barandun aber erst auf dem vierten Lis-
tenplatz zu finden.Vor ihr sind mitJosef
Wiederkehr undJosefWidler zwei Män-
ner aufgeführt.
Diese Platzierung widerspiegle bloss
dasResultat der letztenWahlen. «Es wäre
falsch gewesen, mich nach vorne zu set-
zen, nur weil ich eineFrau bin.Für die
Parteihygiene ist es gut, wenn auchMän-
ner gestärkt werden, die sich verdient ge-
macht haben»,findet Barandun. Selbst
wenn statt ihr einer der beidenJosefs ge-
wählt werde, sei daskeinWeltuntergang.
«Natürlich wärees schade.Aber wer sich
im Kanton Zürichfürdie CVPengagiert,
weiss von Anfang an, dass eskeineAus-
sicht gibt auf Ämter.»
Dabei istBarandun seit achtJahren
kantonaleParteipräsidentin.Jetzt mach-
ten sich gewisse Ermüdungserscheinun-
gen bemerkbar, sagt sie.«Ich möchte

Platz machen für jemandJüngeres.» Ganz
von der politischenBühne abtreten will
sie aber nicht, ein Engagement in ande-
rer Form sei vorstellbar.Ob sie mit die-
serAussage auf die nächstenRegierungs-
ratswahlen schielt, lässt sie offen.Das Amt
sei ausserordentlich spannend, aber auch
sehr herausfordernd.Würde 2023 die dann
65-jährige Bildungsdirektorin Silvia Stei-
ner abtreten,könnte die zehnJahre jün-
gereBarandun für ihre Nachfolge kandi-
dieren. «Das nehme ich,wie eskommt»,
meint sie lapidar.
Erst einmal geht es darum, im natio-
nalenParlament einen Platz zu ergattern.
Würde sie gewählt, wo setzte sie Schwer-
punkte? Bildungsthemen interessierten
sie besonders, dort dürfe die Schweiz ge-
wisse Entwicklungen nicht verpassen.
Aber auch mit Alterspolitik würde sie
sich gern auseinandersetzen.DieFragen,
wie man mit der Pflege oder demWohnen
im Alter umgehen solle, gelte es zu lösen.
Alles in allem bewege sich die CVP in
Zürich momentan in ruhigeren Gewäs-
sern als in derVergangenheit.«Wir haben
unsere Hausaufgaben gemacht.Wir sind
organisatorisch besser aufgestellt und
haben uns verjüngt.Jetzt warten wir auf
Böen», betontBarandun. Siekommt aus
einer Seglerfamilieund ist also gewohnt,
demWind standzuhalten. «Ich habekeine
Angst davor, dass wir untergehen. Aber
ich lasse offen, wie gross unsere Delega-
tion sein wird.»

DISKUTIEREN SIE MIT.

Ständeratswahl: DieTopkandidaten im
Streitgespräch. Die amtierenden Zürcher
Ständeräte DanielJositsch (sp.)
und Ruedi Noser (fdp.) diskutieren mit
den HerausforderernRoger Köppel
(svp.),Tiana Angelina Moser (glp.) und
Marionna Schlatter (gp.).


  1. September 2019, 17.45 Uhr
    (Türöffnung),Bernhard-Theater, Zürich.


Anmeldung unter nzz.ch/live.

NACHTFALTER


Die Nac ht


erwacht


Urs Bühler· Diese einst verschlafene
Stadt stosse mit ihrem Nachtleben,
das rund eine halbe MilliardeFranken
imJahr umsetzen soll, in die europäi-
sche Spitze vor:Das sagen so manche.
Und dieTourismusorganisation preist
Zürich offiziell als «Partymetropole»
an. Die Qualität der partyverrückten
Klublandschaft sollen andere beurtei-
len.Was aber hat sich denn an und hin-
ter den veritablenBartheken so getan in
den letzten paarJahren?
Der Falter schüttelt nach einem
nächtlichen Rundflug den Strassen-
staub von seinen Flügeln und schickt
einen Stossseufzer gen Himmel. Seufzt
er vor Enttäuschung oder vor Glück?
Die Stimmung tendiert klar in Richtung
Zufriedenheit. ZürichsBarkultur ist in
den letzten fünfJahren erwachtund
aufgelebt.Das spiegelt sich inDutzen-
den neuen AmericanBars – demTypus
also, der auf klassische Cocktails setzt –
und wird beflügelt durch die explodierte
Vielfalt der Spirituosen auf dem Markt:
Standen hinter denTheken vor wenigen
Jahren noch zwei, drei Gins, so ist es jetzt
oft ein Mehrfaches, viele davonlokalen
Ursprungs; auch das Angebot anTonic
Water hat sich multipliziert,ebenso wie
das anWermuths oder Amari.
Gewiss:Viele dieser Orte sind so
laut, dass man sich in die «Kronenhalle-
Bar» beamen möchte, diekeine Hinter-
grundmusik braucht.Auch mit der Gast-
freundschaft hapert’s nochimmer zu oft,
etwa wenn Ankommenden schon eine
halbe Stunde vor der offiziellen Schlies-
sungszeit mitgeteilt wird, es werde nichts
mehr ausgeschenkt. Doch es stösst hin-
ter denTr esen desLandes eine erfreu-
liche Generation nach, gerade auch in
der Limmatstadt alsTaktgeberin die-
ser vibrierenden Szene. Mehr und mehr
kreative und experimentierfreudige
Keeper sindamWerk, manche destillie-
ren eigenen Gin, fermentieren Zutaten,
setzen die Sous-vide-Technik ein.
Manch etabliertere Betriebe haben
selbst Nachwuchs gezüchtet, der ihnen
nun tüchtigDampf macht. Der 36-jäh-
rige Zürcher Dirk Hany, der vormalige
Chef derWidder-Bar, hat sich am Stadt-
hausquai selbständig gemacht und ist
dort zumBarkeeper der Stunde mit dem
Nachtlokal der Stunde geworden. Im
Sommerhat er sich mit zehn Cocktails,
die er innert zehn Minuten zu mixen
hatte,den Titel «SwitzerlandWorld
ClassBartender 2019» geholt.Just die-
sesWochenende kämpft er um denWelt-
meistertitel, und seine «Bar amWasser»
ist bei denSwissBarAwards soeben zur
Newcomerin desJahres gewählt worden.
Tatsächlich hebt dieses prächtig
brummende Lokal die hiesigeBarkultur
auf ein neuesLevel und rückt sie sehr in
die Nähe derKunst.Dass die wunder-
bar als Buch gestaltete Getränkekarte
jetzt bei allem internationalen Anspruch
nicht mehr nur in Englisch, sondern
auch in Deutsch erhältlich ist, hat der
Falter soeben mit Genugtuung feststel-
len dürfen. Er machte dieseWoche hier
halt in derReihe «NZZ Promenade»,
in der er erstmals eine Gruppe durchs
Nachtleben der Innenstadt führte.
Vier junge Betriebe und sechs Cock-
tails innert fünf Stunden umfasste diese
Tour. Mit der wohnlichen«Tales-Bar»
finden Nachtschwärmer endlich auch
unter derWoche eine bis um 3 Uhr ge-
öffneteTop-Tankstelle; dieBar «Spitz»
imLandesmuseum bietet hiesigen Spi-
rituosen eine stimmige Plattform,etwa
mit ihrem Kirsch-Negroni; die von
einerFrau geführte «Bar 45» belebte
dieBahnhofstrasse mit edlenNoten. So
spiegelte das Quartett dieVielfalt der
Szene, derkein Geringerer als ihr Doyen
PeterRoth viel Lob spendete: Der pen-
sionierte «Kronenhalle-Bar»-Chef, der
dieThekentour zusammen mit dem Sen-
sorikerPatrick Zbinden als Gastreferent
begleitete, gilt denJungen noch heute
als ganz grossesVorbild. Undso schliesst
sich mancher Kreis.
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