Samstag, 21. September 2019 WIRTSCHAFT 29
Die Mühen der Migros mit einem Regionalfürsten
Der Streit zwischen der Zentrale und dem Präsidenten der Migros Neuenburg-Freiburg offenbart die Problemeder Firmenstruktur
SERGIO AIOLFI, NATALIE GRATWOHL
In der Migros-Welt ist Unruhe ausge-
brochen. Der Grossverteiler ist derzeit
nicht nur damit beschäftigt, die Ertrags-
lage zu verbessern, indem er Struktu-
ren verschlankt und Stellen streicht;seit
Juli schwelt auch einRechtsstreit zwi-
schen dem Migros-Genossenschafts-
Bund (MGB), der Zentrale desKon-
zerns, und der Migros-Genossenschaft
Neuenburg-Freiburg (GMNF), einer
der zehn regionalen Einheiten der
Gruppe. Für ein Unternehmen, das
immer wieder seinen gemeinschaft-
lichen Charakter hervorhebt und be-
tont, es seien die «geistigenWerte, die
uns zusammenhalten», ist ein solcher
innerfamiliärer Zwist ungewöhnlich
und unangenehm.
AnzeigenundGegenanzeigen
Im Zentrum desKonflikts steht der
Verwaltungsratspräsident der GMNF,
Damien Piller.Ihm wird vorgeworfen,
si ch b ei Bauvorhaben, die von seiner
Genossenschaft 2014 und 2015 im K an-
ton Freiburgrealisiert worden waren,
der ungetreuen Geschäftsführung schul-
dig gemachtzu haben.Aufgrund von
insgesamt drei Untersuchungsberich-
ten, die zunächst der MGB und danach
die Geschäftsleitung der GMNF von
einerRechtskanzlei,einem Strafrechts-
spezialisten und einerWirtschaftsprü-
ferfirma erstellen liessen, wurde Straf-
anzeige gegen Piller und Unbekannt er-
stattet. Dem GMNF-Präsidenten wird
überdies vorgeworfen, bei denBaupro-
jek ten in einem Interessenkonflikt ge-
standen zu haben, da die Zahlungender
Migros-Genossenschaft anFirmen gin-
gen, die er beherrschte. Piller bestreitet
die gegen ihn vorgebrachten Anschuldi-
gungen und hatseinerseits mehrereAn-
zeigen wegen Ehrverletzung eingereicht.
Für alle Seiten gilt wie üblich die Un-
schuldsvermutung.
Derzeit liegen die Fälle bei der
Staatsanwaltschaft, und beim MGB
stellt man sich auf den Standpunkt, es
sei nun Sache eines Gerichts, überdie
Angelegenheit zu befinden. Entspre-
chend hält man sich mitKommentaren
zurück. DieseVorgehensweise ist nahe-
liegend, hat jedoch den Nachteil, dass
sie denFall nochlange weiterschwelen
lässt. Bis einrechtsgültiges Gerichts-
urteil vorliegt,dürften Jahre vergehen,
und die Schatten der Geschichtekönn-
ten für de n Grossverteiler zur Hypothek
werden.In einem der vom MGB inAuf-
trag gegebenen Untersuchungsberichte
wird darauf hingewiesen, dass ein «mut-
masslich strafbares Verhalten einesVer-
waltungsratspräsidenten in einer Ge-
nossenschaft (...) nicht nur für die be-
treffende Genossenschaft,sondern auch
für die gesamteMigros-Gruppe und den
die Marke Migros haltenden MGB ein
Reputationsrisiko darst ellt». Der Be-
richt empfiehlt,sich«möglichst zeitnah»
von Piller zu trennen.
Dieser letztgenannte Schritt ist aller-
dings nicht leicht umzusetzen.Wäre
Migros ein gewöhnlichesUnternehmen
und die GMNF eineTochter des MGB,
hätte man einPersonalproblem dieser
Art wohl längst gelöst.Migros ist jedoch
ungewöhnlich.Die zehn Genossenschaf-
ten stehen in der Hierarchie über dem
MGB, sie sind dessen Besitzer.
Diese auf denKopf gestellteKon-
zernstruktur verunmöglicht es dem
MGB, den Präsidenten einer Genossen-
schaft einfach zu entlassen. DieseKom-
petenz hat laut den GMNF-Statuten
einzig die Urabstimmung derregiona-
len Genossenschafter; diese sind auto-
nom und handeln nichtauf Anweisung
des MGB. Der Genossenschaftsrat, die
Vertretung der Genossenschafter, kann
eine entsprechende Urabstimmung ver-
langen. DemVerne hmen nach gibt es
in derTat Bestrebungen, ein solches
Votum durchzuführen. Demnachwür-
den dierund124 000 Mitglieder des
GMNF entscheiden, obDamien Piller
und die übrigen Mitglieder derVerwal-
tung abtreten müssen.
Schönwetter-Statuten
DerFall Migros Neuenburg-Freiburg
ist mithin nicht nur einThema für die
Gerichte; er umfasst auch Corporate-
Governance-Aspekte unddie Rege-
lung desVerhältnisses vomKonzern-
zentrum zurPeripherie. Das Problem
ist, dass über den Grad des Einflusses,
den der MGB auf die Geschäfte und
das Gebaren einerregionalen Genos-
senschaft sowie derenFührungsmann-
schaft ausüben kann, nicht völlige Klar-
heit besteht.Jedenfalls scheinen die ent-
sprechenden statutarischen Bestimmun-
gen Raum für Interpretation zu bieten.
Für den Genossenschafts-Bund sind
die Bestimmungen offenbar eindeu-
tig. In einer Stellungnahme schreibt er:
«Dem MGB und seinen Organen ste-
hen in Bezug auf allfällige gruppenrele-
vante und dieReputation der Migros
schädigende Unregelmässigkeiten bei
den regionalen Genossenschaften um-
fassende Informations- und Unter-
suchungsrechte gegenüber denregiona-
len Genossenschaften und ihren Organ-
personen zu.»Verwiesen wird dabei
auf die MGB-Statuten (Artikel16), wo
unter anderem zu lesen ist:Die regio-
nalen Genossenschaften sind verpflich-
tet,«dem MGB jederzeitAufschluss
über ihre Geschäftsführung und Ein-
sicht in ihre Bücher, Korrespondenz
und Belege zu gewähren».Die Genos-
senschaften sind zur Information wohl
verpflichtet; explizite Hinweise auf ein
Recht der Zentrale,bei den Genossen-
schaften Untersuchungen durchzufüh-
ren, sind in den Statuten jedochkeine
zu finden. Man hat den Eindruck, als
habe beimVerfassen diesesRegelwerks
niemand dieMöglichkeit eines gravie-
rendenRechtsstreits zwischen Zentrale
und regionaler Genossenschaft in Be-
tracht gezogen.
Ein weiteres für die Governance
massgebliches Dokument ist das «Orga-
nisationsreglementVerwaltung MGB»
vom März 2014. Dieseslegt unter ande-
rem fest, dass eine von der operativen
Führung unabhängige Compliance-
Organisation für die Einhaltung von
Unternehmenskultur, Rechtskonformi-
tät und anderen für die Migros gültigen
Regeln sorgen soll. Bei aussergewöhn-
lichen Ereignissen,so h eisst es weiter,
sei derVerwaltungsratspräsident unver-
züglich zu informieren;dem Präsidenten
steht ausserdem «ein jederzeitigesAus-
kunftsrecht» zu, und er kann der Com-
pliance-OrganisationAufträge erteilen.
–Auch in diesemReglement ist, wie in
den Statuten, von einem Informations-
recht der Zentrale dieRede.Zusätz-
lich wird allerdings festgehalten, dass
der MGB Prüfrechte zur Sicherstellung
der Compliance besitzt.Und diese Prüf-
rechte beziehen sich nicht nur auf den
MGB, sondern auf die gesamte Migros-
Gruppe und gelten somit auch gegen-
über den Präsidenten derregionalen
Genossenschaften.
Amtszeitbeschränkung ignoriert
Eigentliche Durchgreifmöglichkeiten
hat die Zentralleitung allerdings nicht,
weshalb es dem MGB auch nicht mög-
lich ist, den Zwist mit einem Macht-
wort von sich aus beizulegen. Er ist dar-
auf angewiesen, dass die Organe der
regionalen Genossenschaft tätig wer-
den und gegen den eigenen Präsiden-
ten vorgehen.Dass Piller sich gegen
solche Pläne zurWehr setzt, stelltkeine
grosse Überraschung dar; er hat sich in
der Vergangenheit immer wieder deut-
lich gegen eine Beschränkung der Be-
fugnisse kleiner Genossenschaften (zu
denen die GMNF zählt) ausgesprochen
und gilt als überzeugterVerfechter einer
dezentralen Migros-Organisation.
Die limitierte Macht der Migros-
Zentrale offenbart sich auch in der
Frage der Amtszeitbeschränkung. Eine
vom MGB erlassene Richtlinie, die be-
sagt, dass Organpersonen ihr Amt wäh-
rend maximal16 Jahren bekleiden sol-
len, scheint von den meisten Genos-
senschaften beherzigt zu werden. Eine
Ausnahme bildet die GMNF, deren
Präsident seineFunktion seit 22Jah-
ren ausübt. Piller hat sich zwar für
eine Amtszeitbeschränkung ausgespro-
chen, hat denWorten bisher aberkeine
Taten folgen lassen.Wenn es hart auf
hart geht, sind die von Migros propa-
gierten «geistigenWerte, die uns zusam-
menhalten»,offenkundig mehrWunsch
als Wirklichkeit.
Die dezentrale Struktur des Migros-Konzerns birgt Risiken. CHRISTIANBEUTLER /NZZ
Riad forciert den Börsengang von Saudi Aramco
Das Königshaus lässt sich vonden jüngsten Angriffen nicht beirren –und setzt offenbar reicheFamilien unter Druck, Aktien des Ölkonzerns zu kaufen
CHRISTIAN WEISFLOG, BEIRUT
Die Drohnen- undRaketenangriffe vom
vergangenen Samstag auf zwei wichtige
Erdölanlagen halbierten über Nacht die
saudische Produktion. Der temporäre
Ausfall entsprach rund 5% der globa-
len Förderung. Die Erdölpreise schos-
sen inReaktion auf die Attacke kurz-
fri stig um rund 20% in die Höhe.Trotz-
dem gaben sich saudischeRegierungs-
vert reter inden vergangenenTagen
zuversichtlich, dass die Angriffe, für die
Riad Iran verantwortlich macht, keinen
Einfluss auf den lange geplanten Bör-
sengang des staatlichen Erdölkonzerns
Aramco haben würden.
Kunden suchen neueQuellen
«Auf unsere Einnahmen gab eskeiner-
lei Auswirkungen», erklärte der saudi-
scheFinanzminister Mohammed al-Ja-
daan gegenüber der Nachrichtenagentur
Reuters. Dank bestehendenReserven
hätten die Märkte ohne Unterbruch ver-
sorgt werdenkönnen. Aramco sei «wie
Phönix aus der Asche gestiegen», sagte
weiter der Energieminister Prinz Abdu-
laziz bin Salman am Donnerstag. Saudi-
arabien werde bis Ende September
seine Produktionskapazitäten wieder
hergestellt haben, versprach der ältere
Halbbruder von Kronprinz Mohammed
bin Salman.
Doch ganz so harmlos scheinen die
Folgen der Angriffe nicht zu sein. Zu-
mindest einigeKunden wurden von
Aramco bereits überVerzögerungen
bei Lieferungen von bis zu mehreren
Wochen informiert.Vor allem die stark
von saudischem Erdöl abhängigen asia-
tischen Staaten sind nun bestrebt, ihre
Energiequellen zu diversifizieren. Denn
was wäre, wenn es in kurzer Zeit zu
einem weiteren, ähnlich schmerzhaf-
ten Angriff auf die saudische Erdöl-
infrastruktur käme? Vielleicht wäre
das Königreich dann nicht mehr so
schnell in der Lage, seine Produk-
tionsausfälle durch vorhandeneReser-
ven zu decken. Mit diesen kann Saudi-
arabien imFalle eines totalen Produk-
tionsstopps die Märkte während rund
27 Tagen versorgen.
EingefrorenesGeld für Aktien
Damit Aramcos geplanteTeilprivatisie-
rung trotz den gestiegenen Investitions-
risiken ein Erfolg wird, scheint Riad nun
Druck auf diereichsten saudischenFami-
lien auszuüben, um sie zum Kauf vonAn-
teilen zu bewegen. Gemäss einem Be-
richt der «FinancialTimes» befinden sich
unter den Betroffenen auchPersonen,die
Ende 2017 unterKorruptionsvorwürfen
im Luxushotel Ritz-Carlton in Riad in-
haftiert wurden.Auch der «reichste Ara-
ber» Prinz al-Walid binTalal soll dazu-
gehören. Der Cousin von Kronprinz bin
Salman sass 83Tage im Ritz-Carlton und
kam erst nach einer «Übereinkunft» mit
der Staatsführung frei. Der Multimilliar-
där habe sich für6Mrd.$freigekauft,be-
richtete das«Wall StreetJournal». Grosse
Teile seinesVermögens sollenimmer
noch eingefroren sein. Nun wurde ihm
angeblich nahegelegt, Geld in den Bör-
sengang von Aramco zu investieren.
Mit der geplantenTeilprivatisierung
steht für Kronprinz Mohammed,Saudi-
arabiens faktischen Herrscher, viel Pres-
tige auf dem Spiel. Er hat versprochen,
die saudischeWirtschaft imRahmen
seiner«Vision 2030» zu modernisieren
und zu diversifizieren,um sie unabhän-
giger vom Erdöl zu machen. DerVer-
kauf von 5% der Aktien des staatlichen
Energieriesen ist ein wichtiger Bestand-
teil seinerVision. Den Erlös aus dem
Verkauf will Prinz Mohammed danach
in seine Modernisierungsprojekte inves-
tie ren. Doch Aramco wird den von ihm
gewünschten Börsenwert von hoch-
gerechnet insgesamt2Bio.$ und den
entsprechenden Erlös von 100Mrd.$
aus dem Börsengang wohl nicht erzie-
len. Auch wegen der seit 2014 stark ge-
sunkenen Erdölpreise erwartenFinanz-
analytiker eher einenWert zwischen 1
und 1,5 Bio.$für SaudiAramco.
AramcosTeilverkauf war bereits vor
den Angriffen vom vergangenen Sams-
tag umstritten. Der Börsengang in Lon-
don oder NewYork war eigentlich be-
reits für 2018 geplant, wurde dann je-
doch auf unbestimmte Zeit verschoben.
Bei einem internationalen Börsengang
müsste Aramco seine Buchführung
transparent machen, was in der saudi-
schenFührung für Unbehagen sorgt.
Zudem sorgte vor einemJahr die Er-
mordung des saudischenJournalisten
Jamal Khashoggi in Istanbul für einen
grossen, bleibendenVertrauensverlust
bei den Investoren.
Erst in den vergangenenWochen kam
etwas Schwung in dasVorhaben.Zu Be-
ginn dieses Monats wurde der einfluss-
reiche Energieminister Khalid al-Falih
durch den Halbbruder des Kronprin-
zen ersetzt. Ein Grund für dieRochade
soll Falihs Widerstand gegen einen über-
stürzten Börsengang gewesen sein. Nun
soll es noch vorJahresende zum Bör-
sengangkommen. Aber voraussichtlich
wird dabei vorerst nur 1% von Aramco
verkauft, und diePapiere gehen ledig-
lich an der Börse in Riad in den Handel.
Die zehn
Genossenschaften
stehen in der Hierarchie
über dem MGB, sie sind
dessen Besitzer.