Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

(nextflipdebug5) #1

Samstag, 21. September 2019 INTERNATIONAL 3


Berlin will das Autofahren


ein bisschen teurer machen


Die grosse Koalit ion einigt sich auf ein Klimaschutzpaket , dessen Wirkung jedoch zweifelhaft ist


ANJASTEHLE, BERLIN


Natürlich ist eskein Zufall, dass die
deutscheRegierung für dieVorstellung
des Klimapakets dasFuturium in Ber-
lin wählte. In dem gläsernen Neubau soll
es inAusstellungen umTechnik,Wissen-
schaft und die Zukunft an sich gehen. Ein
Prestigeprojekt, dessenkonkreter Nut-
zen den meisten Berlinern allerdings bis
jetzt einRätsel ist. Und so passte der Ort
ironischerweise gleich doppelt zu dem
Tag, an dem nach monatelangen, zähen
Verhandlungen die Koalitionsspitzen
endlich einenDurchbruch im Klima-
schutz präsentierten:VielesandemPaket
aus Anreizen undFörderprogrammen ist
ähnlich diffus. Experten befürchten, dass
Deutschland so die gesteckten Klima-
ziele nicht erreichen wird (bis zumJahr
2030 soll derAusstoss klimaschädlicher
Tr eibhausgase um 55 Prozent unter den
Stand von1990 sinken). Bis 2023 soll das
Paket über 54 Milliarden Eurokosten,
trotzdem will die Bundesregierung ohne
Neuverschuldung auskommen.


Der CO 2 -Preis kommt


Grösster Streitpunkt war bis zuletzt das
Konzept für einen CO 2 -Preis. DerBe-
schluss sieht nun vor, dass eine Beprei-
sungbeimVerkehr und bei Gebäuden
eingeführt werden soll–und zwar über
einen Handel mit Zertifikaten. Der Preis
soll langsam steigen, von 10 Euro pro
Tonne CO 2 imJahr 2021 bis 35 Euroim
Jahr 2025. Erst danach soll sich der Preis
über einen Handel bilden und innerhalb
einesKorridors von Angebot und Nach-
frage bestimmt werden. Angepeilt ist ein
Preiskorridor zwischen 35 und 60 Euro


proTonne CO 2. Das soll verhindern, dass
es für dieVerbraucher zu teuer wird. Mit
den Verschmutzungsrechten handeln
nicht die Endkunden,sondern Unterneh-
men, die fossile Heiz- und Kraftstoffe lie-
fern. Einnahmenaus dem Emissionshan-
delssystem sollen entweder für Klima-
schutzmassnahmen verwendet oder den
Bürgern zurückgegeben werden.Das
System ergänzt den bestehenden euro-
päischen Emissionshandel für den Ener-
giesektor und die Industrie.
Auf die Bürgerkommen damit in
den BereichenWohnen und Mobili-
tät deutlich höhereKosten zu. Exper-
ten gehendavon aus, dass ein CO 2 -Preis
von 35 Euro proTonne den Dieselkraft-
stoff beimTanken um mehr als 9 Cent
verteuern wird.Das Massnahmenpaket
sieht deshalb auch Entlastungen vor:


Um soziale Härten bei Heizkosten zu
vermeiden, soll dasWohngeld bei der
Sozialhilfe lautKoalitionspapier um 10
Prozent steigen. Die Stromkosten sol-
len zudem stufenweise sinken. Ab 2021
etwa solle die Umlage für erneuerbare
Energien(EEG-Umlage) um 0,25 Cent
pro Kilowattstunde fallen. Zudem soll
die alsFreibetrag bei der Einkommens-
steuer anrechenbarePendlerpauschale
ab demJahr 2021 steigen.Ab dem
21.Kilometer soll sie 35 Cent betragen


  • bis jetzt sind es 30 Cent pro Kilometer.
    Mobilität trägt in Deutschland fast
    einenFünftel zum CO 2 -Ausstoss bei,
    überwiegend durch den Strassenverkehr.
    Mit günstigeren Tickets will dieKoali-
    tion deshalb dasBahnfahren attraktiver
    machen.Die Mehrwertsteuer aufBahn-
    tickets imFernverkehr soll von derzeit
    19 Prozent auf 7 Prozent sinken. Flie-
    gen soll hingegen teurer werden – da-
    für soll die Luftverkehrssteuer ab 2020
    angehoben werden.Darüber hinaus will
    die Bundesregierung mit mehr E-Autos
    auf der Strasse CO 2 imVerkehr einspa-
    ren. Um die schwacheNachfrage nach
    E-Autos zu steigern, soll die von Bund
    und Herstellern getragene Kaufprämie
    erhöht werden – fürAutos mit einem
    Preis von unter 40 000 Euro. Die Kraft-
    fahrzeugsteuer soll zudem stärker als
    bisher an den CO 2 -Emissionenausge-
    richtet werden. Neben demVerkehr gilt


der Gebäudesektor als grösstes Problem
beim Klimaschutz: Mehr als ein Drittel
aller CO 2 -Emissionen deutscher Haus-
halte fallen auf dasWohnen.Rund sechs
Millionen Ölheizungen sind noch in Be-
trieb. Die Spitzen der grossenKoalition
haben sich nun darauf verständigt, dass
der Einbau neuer Ölheizungen bereits
per 2026 verboten wird, jedoch nur «in
Gebäuden, in denen eine klimafreund-
lichereWärmeerzeugung möglich ist».
Wer seine alte Ölheizung gegen ein
klimafreundlicheres Modellauswechselt,
sollmit einer «Austauschprämie» von 40
Prozent derKosten gefördert werden.

Ausbauder Windkraft stockt


Letzter Baustein der Klimamass-
nahmen: dieFörderung erneuerbarer
Energien.Vor allem derAusbau der
Windkraft anLand stockt derzeit, weil
die Genehmigungsverfahren lange dau-
ern, Flächen knapp sind und es erheb-
lichenWiderstand der Anwohner gibt.
Um die Akzeptanz für neueWindräder
zu erhöhen, sollenKommunen künftig
eine finanzielle Beteiligung am Betrieb
von Anlagen erhalten. BeimAusbau von
Photovoltaik soll einebisherigeFörder-
begrenzung aufgehoben werden.
Fazit: Vieles in dem 22-seitigen
Dokument zum Klimapaket ist politi-
sche Dekoration und bezieht sich auf

partielleFörderprogramme,derenWir-
kung sich erst noch erweisen muss. Bei-
spielBahn: Die eilt bereits jetzt von
einemPassagierrekord zum nächsten
und ist auf vielen Strecken am Limit.
EinBahn-Sprecher sagte amFreitag,
derKonzern gehe wegen der geplanten
Steuersenkung von jährlich rund fünf
Millionen zusätzlichenFahrgästen aus.
Das Bahnfahren müsste daher vor allem
durch einen Streckenausbau und zusätz-
liche Zügeattraktiver gemacht werden.
Verkehrsminister Alexander Dobrindt
(CSU) kündigte amFreitag zwar wei-
tere Investitionen an. Die Erfahrung
zeigt jedoch, dassAusbauprojekte der
Bahn sich oft überJahrzehnte hinziehen.
Der Präsident des Instituts fürWelt-
wirtschaft in Kiel, GabrielFelbermayr,
sieht in demPaket noch weitere Initia-

tiven, die schlecht abgestimmt seien.
So sei eine explizite Abwrackprämie
oder einVerbot von Ölheizungen nicht
sinnvoll: «Ein CO 2 -Preisist an sich
schoneinAnreiz, in CO 2 -arme Hei-
zungen zu investieren.» Ähnlich ist es
bei derPendlerpauschale.Wie soll der
Autoverkehrreduziert werden, wenn
gleichzeitig über diePendlerpauschale
neue Anreize eben fürsAutofahren ge-
setzt werden?
Klimaforscher waren sich imVor-
feld einig gewesen: Die Beschlüsse des
Klimakabinetts werden nur dann ein
Erfolg, wenn die Bundesregierung den
CO 2 -Preis ins Zentrum stellt – und ihn
zunächst wirken lässt. Doch tatsächlich
wird der CO 2 -Preis nun nach dem Motto
«Viel hilft viel» ertränkt in einerFülle
von Einzelmassnahmen.Das ist nicht
nur heikel, weilkeiner weiss, was es am
Ende bringt – und Deutschland auf EU-
Ebene hohe Strafzahlungen von3bis 6
Milliarden Euro drohen. BeiAusgaben
von über 54 Milliarden Euro zulasten des
Staatshaushalts und wenigWirkung ge-
rät die Bundesregierung dann aber auch
beim Steuerzahler in Erklärungsnot.

Weltweite Proteste zumStart der Klimastreikwoche


(dpa)·Rund um den Globus sind am
Freitag Hunderttausende für einen ent-
schiedeneren Kampf gegen die Erd-
erwärmung auf die Strasse gegangen.
DieJugendbewegungFridays forFuture
hatte erstmals auch Erwachsene aufgeru-
fen, sich an denProtesten zu beteiligen.
In Berlin demonstrierten nach Angaben
der Aktivisten etwa 270 00 0 Menschen.
InKöln waren es 70 000 , in Hamburg zo-
gen lautPolizeiangaben ebenfalls 70000
Menschen durch die Stadt. Die Zahl der
Klimademonstranten in Deutschland
insgesamt bezifferteFridays forFuture
auf 1,4 Millionen.Von Aktivisten der
GruppeExtinctionRebellion wurden
vereinzelt Strassen blockiert, unter ande-
rem inFrankfurt und Berlin.
InParis gingen laut einem Bericht
vonFranceinforund 10 000 Menschen
aufdie Strasse, in der belgischen Haupt-
stadt Brüssel sprach diePolizei von
15000 Teilnehmern. In London pro-


testierten nach Angaben derVeranstal-
ter 10 0000 Menschen gegen die Klima-
politik derRegierung. Demonstratio-
nen gab es auch inJohannesburg, Delhi
und Athen. InAustralien folgten rund
300000 Menschen dem Protestaufruf,
wie dieVeranstalter mitteilten.
Die schwedische Aktivistin Greta
Thunberg äusserte sich per Livestream
aus NewYork zufrieden über den Zu-
spruch zu den weltweiten Protesten. «Es
ist unglaublich, was wir zusammen er-
reicht haben. Es ist ein historischerTag»,
sagte die16-Jährige in einer Übertragung
in Stockholm, wo ebenfalls demonstriert
wurde. Die vonThunberg angestossene
Klimabewegung wirdvon Schülern und
Studenten getragen. Sie fordert von der
Politik mehr Engagement im Kampf
gegen die globale Erwärmung und eine
drohende Klimakatastrophe.Vor allem
müsse gemäss demPariser Klimaabkom-
men derTemperaturanstieg imVergleich

zur vorindustriellen Zeit auf unter 1,
Grad eingedämmt werden.
Auf die Beschlüsse der deutschen
BundesregierungreagierteFridays for
FutureamFreitag mit Kritik. Die Akti-
vistin Luisa Neubauer schrieb aufTwit-
ter:«Während Hunderttausende klima-
streiken,einigt sich die GroKo auf einen
Deal, derinAmbitionen undWirksam-
keit jenseits des politisch und technisch
Machbaren liegt.» Und weiter: «Das ist
keinDurchbruch, das ist ein Skandal.»
Für Deutschland fordern die Aktivisten
unter anderem, bis zumJahresende alle
Subventionen für fossile Energieträger
wie Öl undKohle zu streichen, einVier-
tel derKohlekraftwerke abzuschalten
und eine Steuer aufTr eibhausgasemis-
sionen zu erheben.
Für die internationale Streikwoche,
die nun begonnen hat, haben Aktivis-
ten Proteste in mehr als 2900 Städten in
über160 Staaten angekündigt.

Berlin fehlt der Mut
zur Klimapolitik
Kommentar auf Seite 11

Moskaus Justiz


rudert zurück


Vorläufige Freilassung na ch
Empörung über ein Urteil

MARKUSACKERET, MOSKAU

Manchmal nimmt das Schicksal inner-
halb wenigerWochen gleich mehrmals
dramatischeWendungen. AmFreitag hat
das Moskauer Stadtgericht den 23-jähri-
gen SchauspielerPawel Ustinow bis zum
Inkrafttreten des Urteils gegen ihn aus
der Untersuchungshaft entlassen. Erst
am Montag war er zu dreieinhalbJahren
Lagerhaft verurteilt worden, als angeb-
licherTeilnehmer einer unbewilligten
Kundgebung am 3.August. Man hatte
ihm vorgeworfen,Parolen geschrien und
bei seinerFestnahmeWiderstand geleis-
tet zu haben, so dass sich ein National-
gardist an der Schulterverletzt habe.
Es war ein weiteres Urteil in derReihe
der höchst fragwürdigen Prozesse gegen
Teilnehmer nicht genehmigter Proteste
imJuli undAugust in Moskau.

Videos nicht berücksichtigt


Ustinows vorläufige Freilassung mit
derAussicht auf ein milderes Straf-
mass im Berufungsverfahren ist ein klei-
ner Sieg der Zivilgesellschaft. Der Pro-
zessgegen den jungen Mann hatteeine
Empörungswelle in Moskau ausgelöst,
die auch die Staatsmacht nicht ignorie-
ren konnte. Ustinow hatte stets erklärt, er
habe gar nicht an der besagten Demons-
tration teilgenommen. Er habe nur zu-
fällig zum falschen Zeitpunkt im Stadt-
zentrum auf einen Bekanntengewartet.
Das belegt eineVielzahl vonVideoauf-
nahmen, die im Internet zirkulieren. Sie
zeigen,wie Ustinow allein dasteht und
auf sein Mobiltelefon schaut, als plötzlich
zielstrebig eine Gruppe von Sicherheits-
kräften auf ihn zuläuft, ihn überwältigt
undschlägt.Einer der Nationalgardis-
ten kam dabei zuFall. ZweiTage später
wurde Ustinow in Untersuchungshaft ge-
setzt, wegen Gewalt gegeneinenVertre-
terder Sicherheitsorgane. Bis zu sechs
JahreHaft stehen darauf.
Spätestens mit demUrteil wurde der
Fall zum Beispiel für die Schutzlosigkeit
des russischen Bürgers und dieWillkür
derJustiz. Die Anklage stützte sich aus-
schliesslich auf dieAussagen der betei-
ligten Sicherheitskräfte; das Gericht ver-
zichtete ausdrücklich darauf, dieVideos
als Beweismittel auch nur zurKenntnis
zu nehmen.Ustinows Schauspiellehrer
Konstantin Raikin, der Direktor des
Moskauer Satirikon-Theaters, hatte be-
reits vor demUrteil auf die Unschuld sei-
nes früheren Schülers und die schreiende
Ungerechtigkeit desVerfahrens in einer
Videobotschaft hingewiesen.Am Montag
schlossen sich ihm immermehr bekannte
russische Schauspieler undRegisseure
an. Der gesellschaftlicheProtest griff mit
der Losung «Ich bin / wir sindPawel Usti-
now» die Solidaritätswelle vomJuni auf,
als Hunderte vonJournalisten für ihren
willkürlich festgenommenen Kollegen
Iwan Golunow eingestandenwaren.

Grosse Solidaritätswelle


Den Berufskollegen Ustinows folgten
Lehrer und sogar Priester der russisch-or-
thodoxen Kirche. Hunderte standen für
Einzel-Mahnwachen vor derPräsidial-
verwaltung an–sie machten dort auch
auf anderehaarsträubende Urteile im
Zusammenhang mit den Protestenauf-
merksam.Vertreter der Staatspartei und
selbst der Chef der Nationalgarde stell-
ten sich plötzlich auf den Standpunkt, das
Urteil sei viel zu hart. Der Kreml verwies
auf das hängige Berufungsverfahren.
Am Donnerstag schlug dieselbe Staats-
anwaltschaft, die zuvor noch vierJahre
Lager gefordert hatte,die Freilassung aus
der Untersuchungshaft vor.
Dieser Opportunismuskommt Usti-
now zugute.Aber er verdeutlicht erst
recht die Willkür dieser Verfahren.
Ähnlich wie bei Golunow versucht die
Staatsmacht, dem gesellschaftlichen Un-
mut mit plötzlicher Milde im Einzelfall
Wind aus den Segeln zu nehmen. Am
Grundproblem, dass nämlich alle Straf-
verfahren dieses Spätsommers völlig
unverhältnismässigsind und dass jedem
Bürger das Gefühl gegeben wird, er sei
Polizei undJustiz schutzlos ausgeliefert,
ändert das überhaupt nichts.

Am Freitag nehmen inBerlin rund 270000 Menschen an der Klimademonstration teil. IAN LANGSDON / EPA

Vieles in dem
22-seitigen Dokument
zum Klimapaket ist
politische Dekoration.
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