Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

(nextflipdebug5) #1

Samstag, 21. September 2019 WIRTSCHAFT 31


Kaliforniens Experiment mit der Gig-Economy


Ein neues Gesetz sol l Auftragnehmer von Uber und Co. Festan gestel lten gleichstellen – doch es gibt viele offene Fragen


MARTIN LANZ,WASHINGTON


Der Gouverneur Kaliforniens, Gavin
Newsom, hat dieseWoche die Assem-
bly Bill5unterzeichnet.Das Gesetz soll
sicherstellen, dass in dem US-Gliedstaat
selbständige Mitarbeiter festangestell-
ten Angestellten gleichgestellt werden
und damit Anspruch auf Mindestlöhne,
Arbeitsausfallentschädigungen und an-
dere Sozialleistungen erhalten. Solche
Leistungen sind Uber- undLyft-Fahrern,
die als unabhängigeAuftragnehmer be-
handelt werden, heute verwehrt.
Was meinen potenziell direkt Betrof-
fene dazu?Auf der Hin- und derRück-
fahrt zu und von einem abendlichen
Termin dieseWoche in der US-Haupt-
stadtWashington stellte sich heraus,
dass die Meinungen nicht unterschied-
licher sein könnten.


Betroffene uneins


Ein Lyft-Fahrer mit Namen Shenku-
tieübernimmt die Hinfahrt.DasGe-
spräch mit dem gebürtigenÄthiopierist
schwierig, weil er kaum Englisch kann.
Er scheint sich der Gesetzesänderung
in Kalifornien, die irgendwann auch die
Ostküste erfassenkönnte, bewusst zu
sein, kann sie aber nichtrecht einord-
nen. Er muss sich imAbendstossverkehr
von Washington anderweitigkonzen-
trieren; seinRating alsFahrer ist übri-
gens perfekt. Shenkutie sagt,er fahre
5 bis 6 Stunden proTag, nach Lust und
Laune, im Durchschnitt gegen 30 Stun-
den proWoche. Mit dem Arrangement
mit Lyft ist er zufrieden. Er möchte
nichts ändern. Ob er mehrRegeln und
eventuell mehr Sozialleistungen wolle?
Er winkt ab.
Eine ganz andere Einstellung hat
der ursprünglich aus Indonesien stam-
mendeRamzi,der auf derRückfahrt am
St euer sitzt. Er hatFamilie und wäre an
Sozialleistungen interessiert. Er klagt
vor allem über seine Krankenversiche-
rung und deren Selbstbehalt von 6000 $.
Anders als die 55% derAmerikaner, die
über ihren Arbeitgeber, und die rund
30%, die via die staatlichen Kranken-
versicherungen Medicare oder Medic-
aid versichert sind, muss sichRamzi
bei einem privaten Anbieter direkt ver-
sichern.Das ist teuer, weshalb er eine
Versicherungslösung viaLyft oder Uber
bevorzugen würde.
Er ist sich allerdings bewusst,dass zur
Finanzierung der Sozialleistungen wohl


ein Teil des Lohns draufgehen würde.
Mankönne nicht beides – gute Löhne
und gute Nebenleistungen – haben.
Ramzi ist aber im Gegensatz zu Shen-
kutie definitiv einLyft-Fahrer, für den
eine Wandlung vom unabhängigenAuf-
tragnehmer zum Vollzeitangestellten
von Vorteil wäre. Er fährt derzeit bis
zu 60 Stunden dieWoche, sein Tages-
einnahmenziel sind 200$.Allein vom
Fahren leben er und seineFamilie aber
nicht. Er habe15 Jahre für den Nah-
rungsmittelkonzern Nabisco gearbeitet
und dann einFrühpensionierungspaket
angenommen, von dem er heute zeh-
renkönne.

UngebremsteNachfrage


Und was wäre, wenn wegen der neuen
Regelung aus Kalifornien dieLyft- und
Uber-Fahrten für den Konsumenten
teurer würden?Ramzi macht sichkeine
Sorgen. Die Nachfrage in der Haupt-
stadtregionsei Tag und Nachtdermas-

sen hoch, er müsse nie Arbeit suchen.
Und macht sich über die Amerikaner
lustig, die selbst bei bestemWetter für
eine Distanz von zwei Häuserblocks
einenLyft bestellten.
Shenkutie undRamzi inWashing-
ton können bald beobachten, was im
4000 Kilometer entfernten Kalifornien
passiert, wo das Gesetz am1. J anuar
in Kraft tritt. Die Zahl der Uber-Fah-
rer im 40-Millionen-Einwohner-Glied-
staatwird auf140000geschätzt,jene der
Lyft-Fahrer auf 80000. Das Gesetz stellt
nich tnur das Geschäftsmodellder Fahr-
dienstleister infrage, sondern grund-
sätzlich das Geschäftsmodell von allen
Branchen, die sich in grossem Stil auf
unabhängigeAuftragnehmer stützen.
DieseArbeitgeber zwingt das Gesetz
künftig zum sogenannten ABC-Test.
Demnach darf ein Arbeitgeber einen
Mitarbeiter nur dann als unabhängi-
gen Auftragnehmer («independent con-
tractor») behandeln, wenn er beweisen
kann, dass der Mitarbeiter bei derVer-

richtung der Arbeit frei ist vonKontrol-
len und Anweisungen des Arbeitgebers,
dass der Mitarbeiter Leistungen aus-
serhalb desKerngeschäfts des Arbeit-
gebers erbringt und dass der Mitarbei-
ter regelmässig engagiert wird als unab-
hängiger Gewerbler.
Wenn man diese drei Kriterien liest,
so gibt es eigentlich für Uber, Ly ft und
Co. kaum ein Entkommen.Die Gig-
Unternehmen sind aber kreativ, so dass
das letzteWort noch nichtgesp rochen
sein dürfte.Von alternativen, aufFrei-
willigkeit basierendenRahmenwerken
zurVerbesserung derArbeitsbedingun-
gen ist dieRede bis zu vonLyft und
Co. gesteuerten Kampagnen, die zu
einemReferendum gegen das Gesetz
führenkönnten.
Die Entwicklung in Kalifornien
könnte weitreichendeFolgen haben und
von anderen Gliedstaaten und gar von
den Bundespolitikernkopiert werden.
Die Demokraten hoffen auf Zulauf aus
dem Lager der vermeintlich geschröpf-

ten Lyft- und Uber-Fahrer. Diese poli-
tischeRechnung dürfte allerdings nicht
unbedingt aufgehen.Darauf deuten die
Beispiele vonShenkutie undRamzi
hin. Dazu kommt,dass der seit mehr
als zehnJahren währendeWirtschafts-
aufschwung zu wieder viel solideren
Arbeitsmarktverhältnissen geführt hat.
Tendenziell hat die Gig-Economyeher
wieder an Bedeutung verloren, wie Er-
hebungen des Büros für Arbeitsstatistik
BLS nahelegen.

Weniger Arbeitskräfte


2017 sollen demnach 10,1% derArbeits-
kräfte in den USA in «alternativen
Arbeitsarrangements» – etwa als unab-
hängigeAuftragnehmer, als abrufbare
oder temporäreArbeitskräfte – gewirkt
haben.2005 waren es noch 10,7% gewe-
sen. Diese Statistik dürfte allerdings nur
einenTeil der Gig-Economy erfassen,
weil nur Arbeitskräfte gezählt werden,
für die das alternative Arbeitsverhältnis
die Haupteinkommensquelle darstellt.
So werden jene, die mit Gig-Jobs ledig-
lich ihr Einkommen aufbessernoder ab
und zu einspringen, nicht gezählt.
In einer zusätzlichen erstmaligen
Auswertung kam das BLS zudem auf
eine Zahl von 1,6 Mio.Arbeitskräften
im Jahr 2017,die sich elektronisch ver-
mitteln liessen. DieseArbeitskräfte


  • rund 1% aller Beschäftigten in den
    USA–nehmenKurzzeitjobs oderAuf-
    träge wahr viaWebsites oder Mobile-
    Apps, welche sie direkt inVerbindung
    mit Kunden bringen und welche auch
    die Bezahlung für dieseAufträge erlau-
    ben. Unter sie würden also auchLyft-
    und Uber-Fahrer fallen.
    Die Erhebung erlaubt aber weder
    klareRückschlüsse darauf, wie wich-
    tig und umfangreich diese Engage-
    ments punkto Einkommen und Zeit-
    aufwand sind, noch darauf, wie viele
    solche Arbeitskräfte es pro Branche
    gibt.Das BLS kann lediglich sagen,
    dass es im Mai 2017 unter den total 1,6
    Mio. elektronisch vermittelten 350 000
    Arbeitskräfte gab, deren Hauptbeschäf-
    tigung imTransport- undVersorgungs-
    wesen war.
    Die vielen Unklarheiten in Bezug auf
    Grösse und Eigenschaften der Gig-Eco-
    nomy und der stetige gesellschaftliche
    Wandel zeigen, wie schwierigAnpassun-
    gen desArbeitsrechts sind.Man darf die
    AssemblyBill 5 in Kalifornien mitFug
    und Recht als Experiment bezeichnen.


Die Fahrerdes FahrdienstvermittlersLyft haben in Kalifornien unter anderemAnspruchauf Mindestlöhne. LUCAS JACKSON /REUTERS

RBS erhält als erste grosse britische Bank eine Chefin


Die Royal Bank of Scotland, einst Problemfall in der Finanzkrise, wird bei der Gleichberechtigung zum Vorbild


BENJAMIN TRIEBE, LONDON


Wenn es ganz schlecht läuft, wird Alison
Rose ihrenJob alsBankchefin am tur-
bulentestenTag in Grossbritannien seit
der Finanzkriseantreten.Ausgerechnet
am 1. November, demTag nach einem
möglicherweise ungeregelten EU-Aus-
tritt desVereinigtenKönigreichs, über-
nimmtRose die Spitze derRoyal Bank
of Scotland (RBS). Die RBS kün-
digte ihre Beförderungam Freitag an
und avanciert damit zum erstengros-
sen britischenFinanzinstitut, das von
einer Frau geleitet wird.Für Rose ist
es die Krönung einer 27Jahre langen
Karriere bei der RBS, für dieFrauen
in der Branche ein gutes Zeichen: Zu
wenige von ihnen schaffen es inFüh-
rungspositionen.


Frauen steigenseltener auf


Wie sich derFrauenanteil in denTep-
pichetagen erhöhen und damit auch der
deutliche Lohnunterschied zwischen
den Geschlechtern reduzieren lässt,
diskutiert die britischeFinanzwirtschaft
seit Jahren .Allerdings müsse sich das
noch in Einstellungen und Beförde-
rungen niederschlagen, kommentierte
EndeAugust Elizabeth Budd von der


Anwaltskanzlei Pinsent Masons. Budd
hat Daten der Finanzaufsicht FCA
ausgewertet, die Beförderungen auf
Managementpositionen in der Bran-
che gutheissen muss.Von den Anträgen
zur Zulassung für gehobeneFührungs-
positionen bezogen sich in demJahr bis

Ende März nur 26% aufFrauen. Für
Positionen im mittleren Management
waren es nur18%, wennauch mit leicht
steigenderTendenz.
Die Bilanz ist mager, selbst in
einem schwachen Umfeld: Im briti-
schen Aktienleitindex FTSE der füh-
renden 100Firmen fanden sich imJahr
2018 nur sechs weibliche CEO,davon
keine aus derFinanzbranche. Die RBS
wird künftig das einzige Unterneh-
men im Leitindex sein, bei demFrauen
gleich beide Spitzenpositionen der Ge-

schäftsführung einnehmen: Katie Mur-
ray amtet bereits seit vergangenemJahr
alsChief FinancialOfficer (CFO).
AlisonRose setze sich stark für
Vielfalt ein, hebt die RBS hervor. Das
ist mehr als eineWerbebotschaft.Im
Auftrag derRegierung leiteteRose
unlängst eine Erhebung zu denWider-
ständen, dieFrauen voneiner Firmen-
gründung abhalten. In Grossbritannien
kommen auf zehn männliche Grün-
der wenigerals fünf weibliche.Das ist
auch im internationalenVergleich we-
nig, und derWirtschaft entgeht so er-
heblichesPotenzial.Wenn Frauen ein
Unt ernehmen gründen, erzielt dieses
später auch seltener einen grossen
Umsatz als bei Männern. Im Finanz-
sektor,der im Branchenvergleich sehr
produktiv ist, sind Gründerinnen be-
sonders unterrepräsentiert.
Der im März publizierte und viel-
beachteteRose-Bericht brachte Licht
ins Dunkel. Als grösstes Hindernis für
Gründerinnenentpuppte sich der Zu-
gang zuFremdkapital. Frauen erhal-
ten seltener Kredit und sind schlechter
über Kreditmöglichkeiten informiert,
und das über die gesamte Unterneh-
mensentwicklung hinweg. Ein weiteres
wichtiges Hindernis ist dieVereinbar-
keit mit derFamili e, die Frauenviel

öfter als Problemangeben als Männer.
Ausserdem sindFrauen risikoaverse r,
haben eine zu geringe Meinung von
ihren Fähigkeiten und sind schlechter
vernetzt.

Brexit bedrohtPrivatisierung


In der RBS ist die 49-jährigeRose
bestens vernetzt. Sie hat ihr ganzes Be-
rufsleben dortverbracht,angefangen
mit dem Einstieg alsTrainee imJahr


  1. Gegenwärtig ist sie unter anderem
    Chefin des inländischen Geschäfts mit
    Firmen- und Privatkunden, das einen
    Drittel zum Ertrag der Gruppe beisteu-
    ert. Rose erlebte die Hybris der RBS
    vor derFinanzkrise, als sich das Institut
    kurzzeitig zur grösstenBank derWelt
    auf sch wang, sowie ihren Zusammen-
    bruch, der in einer45Mrd.£ (56Mrd.
    Fr.) teurenVerstaatlichung mündete,
    und die anschliessende Schrumpfkur.
    Heute ist die RBS zwar hinter
    HSBC, Llodys undBarclays die kleinste
    der vier grossen britischenBanken,aber
    der wichtigste Kreditgeber für kleine
    und mittlere Unternehmen–jenes Ge-
    schäftsfeld, demRose derzeit vorsteht.
    Damit reagiert die RBS besonders emp-
    findlich auf den inländischenKonjunk-
    turverlauf und damit auf potenzielle


Verwerfungen durch den Brexit.Weil
die Unsicherheit rund um den EU-
Ausstieg dieWirtschaft bereits belastet,
hat die RBS unlängstkommuniziert,ihr
Ziel einer Eigenkapitalrendite von 12%
im kommendenJahr möglicherweise zu
verfehlen.Das könnte die Privatisie-
rung verzögern: Noch liegt der Staats-
anteil bei 62%, aber dieRegierung will
alle RBS-Aktien bis 2024 abstossen.
Dafür muss dieBank anhaltend Ge-
winne erwirtschaften und den Aktien-
kurs steigern.
NacheinemJahrzehnt derVerluste
schreibt die RBS erst wieder seit 20 17
schwarze Zahlen.Das war dasVer-
dienst vonRoses Vorgäng er Ross Mc
Ewan, der im April nach mehr als fünf
Jahren seinen Rücktritt ankündigte.
Hauptsächlich war McEwan mit dem
Aufräumen hinsichtlich früherer Skan-
dale,der Sanierungder RBS und dem
Anlegen eines verlässlichen Kapital-
polsters beschäftigt.Roses Grundgehalt
wird sich auf 1,1 Mio.£ (1,4 Mio.Fr.)
belaufen – 10% mehr, als McEwan er-
hielt. Doch im Branchenvergleich ist
es wenig, was externe Bewerber abge-
schreckt haben soll. DieAufgabe für
die neueChefin, die immer als interne
Favoritin galt, ist gleichwohl eine der
schwierigsten in der Branche.

Alison Rose
PD Neue Chefinvon RBS
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