Samstag, 21. September 2019 FEUILLETON 41
Heute schwelgen Gäste, wo gefoltert wurde
Vergangene Schuld wird in der Türkei gern unter den Teppich gekehrt. Dagege n formiert sich Widerstand
CONSTANZE LETSCH
Die Istanbuler Sanasaryan-Karawanse-
rei, ein imposanterBau im Herzen des
touristischen Stadtteils Eminönü, wird
in kaum einemReiseführer aufgeführt.
KeineTafel weistPassanten auf die Ge-
schichte des Gebäudes hin.Warum die
hastigrenovierte Karawanserei von der
Stadtverwaltung abgeriegelt wurde, wis-
sen umliegende Händler. «Korruption
undillegaler Umbau»,erklärt einTele-
fon-Reparateur, der sich über das des-
wegen stillliegende Geschäft in der
Strasse ärgert. Noch immer kämpfe das
armenischePatriarchat vor Gericht um
die vom türkischen Staatkonfiszierte
Immobilie.
WasTouristen nicht wissen, ist vielen
Istanbulern bekannt.Das 1895 erbaute
und dann vom armenischen Geschäfts-
mann Migirdiç Sanasaryan erworbene
neoklassizistische Gebäude stieg nach
der Beschlagnahmung in Istanbulskol-
lektivem Gedächtnis zu trauriger Be-
rühmtheit auf.Zuerst alsPolizeihaupt-
quartier, in dessen «Sargzellen» politi-
sche Gefangene gefoltert wurden, und
nach dem brutalen Militärputsch 1980
als die gefürchtete «Abteilung2» der
Istanbuler Sicherheitsbehörden. «Kei-
ner ist dort heil wiederrausgekommen»,
sagt Mehmet, der seit vierzigJahren in
einem benachbarten Lagerhaus eine
kleineTeeküche betreibt. «Daran will
sich niemand mehr erinnern.»
AusradierteGeschichte
Das will der zu Beginn desJahres er-
schienene Spazierführer «Hatirlayan
Sehir» – deutsch: Die Stadt, die sich er-
innert – nun ändern; die Publikation
ist aufTürkisch und Englisch abgefasst
und auch im Internet abrufbar.Auf dem
Weg vom zentralenTaksim-Platz hinun-
ter nach Karaköy und über das Goldene
Horn ins historische Stadtviertel Sultan-
ahmet führt der Spaziergang vorbei an
Orten, die Schauplätze von Gewalt,von
Widerstand, von staatlicherWillkür und
Diskriminierung waren.
DasBuch rückt dabei die Abwesen-
heit,dasFehlen von etwas,indenFokus.
Im Gegensatz zu einemkonventionel-
lenReiseführer weist es auf die Spuren
der Geschichte hin, die entfernt oder un-
kenntlich gemacht wurden, auf die Epi-
soden, die man in derTürkei offiziell un-
erwähnt lässt.
So informiert es zum Beispiel über die
Mittäterschaft des osmanischen Beam-
tenTalatPascha amVölkermord an den
Armeniern, die eine erklärendeTafel vor
der ehemaligenResidenz des Ministers
lieber verschweigt.Auch fügt es zur Ge-
schichte des Ibrahim-Pascha-Palastes –
heute das Museum für türkische und isla-
mischeKunst in Sultanahmet – den Um-
stand hinzu, dass Historiker es für den
Ort halten, an dem der Genozid an den
Armeniern am 24. April 1915 begann, da
prominente Mitglieder der armenischen
Gemeinde von Istanbul vor ihrer Depor-
tation dort inhaftiert wurden.
HrantDink lebt
Auch auf die im Regierungsdiskurs
gerne vergessene oder verzerrte jün-
gere Geschichte derTürkei wird hin-
gewiesen. Der zentrale Gezi-Park zum
Beispiel, der den Protesten vom Som-
mer 2013 seinen Namen gab, ist seitdem
ausgiebig frisiert und von allen an die
Demonstrationen erinnernden Spuren
gesäubert worden.Verschwunden ist der
damals von Aktivisten angelegte urbane
Garten. An einer niedrigen Steinabgren-
zung erinnert nichts mehr an die «Mauer
der nötigen Dinge», aufder während der
Gezi-Proteste Essen,Wasser und Medi-
kamente für den allgemeinen Gebrauch
abgelegt wurden.Ironischerweise ist
wohl einzig die hohePolizeipräsenz eine
Erinnerung daran, dass in diesemPark
vor wenigenJahren die grössten fried-
lichen zivilen Proteste in der jüngeren
Geschichte derTürkei stattfanden, in-
folge deren die Macht derRegierungs-
partei AKP insWanken geriet.
«In derTürkei fehlt eine Erinnerungs-
kultur»,sagt SenaBasöz,Künstlerin und
Projektkoordinatorin in der imJuni neu-
eröffneten «23.5 Hrant Dink»-Gedenk-
stätte.Anders als an den im Spazierfüh-
rer erwähnten Orten wird hier Gesche-
heneskonkret: Die Institution befindet
sich in den ehemaligen Büroräumender
armenisch-türkischen Wochenzeitung
«Agos», vor deren Türen derJourna-
list Hrant Dink am19.Januar 2007 er-
mordet wurde. «Auf jedesTr auma folgt
sofort ein neues. Leider fehlt das Be-
wusstsein für die Notwendigkeit einer
Auseinandersetzung mit dem Gesche-
henen. Es wird im Gegenteil alles unter
denTeppich gekehrt. Aber das funktio-
niert einfach nicht.»
Auch deswegen sei die Eröffnung der
Hrant-Dink-Gedenkstätte ein Grund zu
hoffen.«Wir brauchen solche Orte ganz
dringend», sagtBasöz. «Wir wollen da-
mitAufmerksamkeit schaffen und die
Leute inspirieren, Ähnliches auch an
anderen Orten zu tun», fügt ihreKol-
legin, Programmkoordinatorin Nayat
Karaköse,hinzu.
Mehr als fünfJahre sind die beiden
anDutzende Gedenkstätten in fünf-
zehn verschiedenenLändern gereist,
haben an Seminaren,Konferenzen und
Workshops teilgenommen und zahlrei-
che Spezialisten nach Istanbul eingela-
den, umsichRat für den Umbau des
ehemaligen «Agos»-Büros einzuholen.
Dank Hunderter überJa hre zusam-
mengetragener Archivtexte,Audio- und
Videoaufnahmen ist es nun Hrant Dink
selbst, der den Besuchern anhand eige-
ner Erfahrungen die schmerzvolle Ge-
schichteder armenischen Minderheit
und der OppositioninderTürkei näher-
bringt. Er spricht von Diskriminierung,
Hass,Enteignungen, Militärputsch,Fol-
ter und Genozid.
Ganz bewusst habe man jedoch auf
verstörende Bilder und solche, die phy-
sische Gewalt abbildeten, verzichtet, so
Karaköse. Nirgends hängt das bekannte
Bild des ermordetenJournalisten Dink.
«Es wäre einfach gewesen, Menschen
weinend von hier wegzuschicken. Aber
wir haben uns gefragt, wie man an so
einem Ort Hoffnung machen kann.»
Man wolle nicht anklagen, sondern in den
Dialog treten. Die Erinnerung an «die
extraordinäreArbeit eines ganz norma-
len Menschen» wolle Besucher zur kri-
tischenAuseinandersetzung mit derVer-
gangenheitund damitauch zurGestal-
tung dereigenen Zukunftanregen.«In
derTürkei wird dasVergessen gelehrt –
im offiziellen Diskurs, in der Schule, über-
all.Wir lernen gerade erst, was es heisst,
sich aktiv zu erinnern», so Karaköse.
In Istanbul ist es auch dierapide,
staatsgetriebeneForm der Gentrifizie-
rung, die seitJahren Löcher ins Gedächt-
ni sder Stadt frisst. So erinnert der Spa-
zierführer an das1924 gegründete Emek-
Kino, einen der ältesten Kinosäle des
Landes, der 2013 einem umstrittenen
Einkaufszentrum weichen musste. Zwi-
schen MadameTussauds, internationalen
Kaffeehausketten und denLäden ver-
schiedenerTextilriesen erinnert heute
nichts mehr an die1942 erhobeneVer-
mögenssteuer, die grosseTeile der nicht-
muslimischen Minderheit – auch die Be-
sitzer des Kinos – in denRuin trieb.
Auch das Sultanahmet-Gefängnis,
benannt nach dem gleichnamigen histo-
rischen Stadtviertel und das erste mo-
derne Gefängnis derTürkei, wurde 1996
trotz scharfen Protesten von Denkmal-
schützern und Stadtplanern als Luxus-
hotel wiedereröffnet.Woeinst türki-
sche Intellektuelle, Oppositionelle und
Künstler,unter ihnen Nazim Hikmet,
Aziz Nesin, OrhanKemal oder Deniz
Gezmis, einsassen,können gutbetuchte
Touristen in den zu Hotelzimmern um-
gebauten Zellen des Four-Seasons-
Hotels übernachten.Auf Nachfrage zei-
gen Hotelangestellte Interessierten eine
Steinsäule, auf der sich der Insasse «Fah-
rer Niyazi» mit einem ungelenken Graf-
fito verewigte.
Chance vertan
Wer die Geschichte des Hotels jedoch
nichtkennt, ahnt beim Gang durch die
von gedämpfter Musik beschallten und
mit weichenTeppichen ausgelegtenKor-
ridorenichts von derFolter,dem Elend,
aber auch dem zähen und mutigenWi-
derstand, der diesen Ort prägte. «DieTür-
kei hat damit erneut die Chance vertan,
die eigeneVergangenheit aufzuarbeiten»,
urteilt der Spazierführer scharf.
Nayat Karaköse betont, dass dasVer-
gessen nie eine Lösung sei. «Solange ein
Tr auma nicht geheilt ist, wird es unter-
schwellig immer präsent sein und auf
ganz verschiedene Art undWeise immer
wieder zurückkehren, in verschiedenen
Formen der Gewalt.» Gerade in der
Türkei müsse man an so vielen Orten
dieTr aumata derVergangenheit end-
lich bewusst ins Gedächtnis zurück-
holen. «Erinnern istWiderstand, eine
Art des Kampfes und von Aktivismus.
Erinnern ist Heilung», so Karaköse. «Es
trägt sehr viel zumWohlsein einer Ge-
sellschaft bei.»
Link zum Spazierführ er: ht tps://hak ikat adalet-
hafiza.org /en/kaynak/a-city-that-remembers-
spac e-and-memory-from-taksim-to-sultanah-
met/
Im Istanbuler Ibrahim-Pascha-Palast soll am 24.April 1915 der Genozid an den Armeniern begonnen haben; vor dem vergittertenPortal erinnernDemonstranten an die tot-
geschwiegeneVergangenheit. ITALO RONDINELLA /POLARIS / LAIF
Das Alte klin gt
noch immer neu
David Zinman er innert in Zürich
an eine grosse Zeit
CHRISTIAN WILDHAGEN
Kaum ist allenthalben die sommer-
licheFestivalsaison mit Glanz und Glo-
ria zu Ende gegangen, beginnt vieler-
orts, ebenso mitPauken undTr ompe-
ten, schon wieder diereguläre Opern-
undKonzertsaison.Damit die in Luzern
und anderswo hochkulturell verwöhn-
ten Musikfreunde gar nicht erst zur
Ruhekommen, zündet man bei der
Tonhalle Zürich gleich ein mehrstufiges
Startprogramm,umrasch wieder in den
musikalischen Himmel vorzudringen,
der bekanntlich voller Geigen hängt.
Abgehoben hat das Raumschiff be-
reits EndeAugust in einemFilmmusik-
konzert mit StanleyKubricks «20 01 :A
Space Odyssey»,und Anfang Oktober
folgt dann dieLandung auf einem neuen
Planeten –mit dem Einstand desrenom-
mierten ChefdirigentenPaavo Järvi.
Zuvor aber, beim erstenregulären
Sinfoniekonzert der Spielzeit 2019/20,
ging es um andereFormen der Sphären-
harmonie. EhrendirigentDavid Zinman
sollte das Orchester so richtig aufTou-
ren bringen – mit einemreinen Beetho-
ven-Abend. Ein kluger Schachzug, denn
mit seinen Beethoven-Interpretationen
unter Zinman hat dasTonhalle-Orches-
ter ab den späten1990erJahren weltweit
Aufsehen erregt und sogar den Sprung
in die ersteReihe der internationalen
Spitzenensembles geschafft. Der Geist,
der den Musikerinnen und Musikern da-
mals Flügel verlieh, war auch jetzt wie-
der in derTonhalle Maag zu spüren.
Erntezeit
Zinman, inzwischen 83Jahre alt, inspi-
riert das Orchester offenkundig noch
immer gewaltig.Dabeiist das Geheim-
nis, das seinerzeit zum Erfolg führte,
längstkeines mehr: die Idee, Erkennt-
nisse und Spieltechniken der historisch
informierten Aufführungspraxis auf
ein traditionelles Sinfonieorchester zu
übertragen, wird mittlerweile selbst von
den Berliner Philharmonikernkopiert.
Zinman und sein ehemaliges Orches-
ter, dem er von1995 an knappzwan-
zigJahre lang vorstand, verfügen aller-
dings über einen unschätzbarenVorteil:
Sie haben die Phase des Experimentie-
rens lange hinter sich gelassen undkön-
nen jetzt dieFrüchteder gemeinsamen
Arbeiternten. Dies zeigt am Donners-
tagabend vor allem die fulminanteWie-
dergabe der7. Sinfonie.
Zinmans Lesart ist straff, kaum mil-
der als früher, abervon einem wissen-
den, fast spielerischenTon getragen.
PrägendeStilelemente wiedas (fast)
vibratolose Spiel der Streicher, die Nut-
zung leerer Saiten und die durchweg
gleichberechtigte, starke Präsenz der
Bläser haben nichts Demonstratives
mehr – sie wirken vollkommen orga-
nisch und natürlich. Die Artikulation ist
noch immer gestochenscharf, ohne die
grösseren Entwicklungslinien zu durch-
brechen; dieTempisind flott, aber frei
von jenem Überdruck, der «Anfängern»
in der Originalklangpraxis so oft unter-
läuft. So wird der berühmte Schlusssatz,
für den Carl Maria vonWeber Beetho-
ven einst ins Irrenhaus sperren wollte,
hier nicht zu einemRasanz-Exzess am
Rande des Deliriums (wie vor einem
Jahr bei KirillPetrenko und den Berli-
nern); er bleibt ein «Allegro con brio»,
das gerade aus der leichten Zurück-
nahme mitreissenden Zug entwickelt.
Herrlichentspannt
Wie sehr die Kraft in derRuhe sou-
veränen Gestaltens liegt, hatte zuvor
schon Beethovens Tr ipelkonzert op.
56 gezeigt: Mit den beiden eingespiel-
ten Stimmführern des Orchesters, Julia
Becker (Violine) undThomas Grossen-
bacher (Cello), sowie dem PianistenTe o
Gheorghiu als Solistentrio gelingt eine
klangvolle, herrlich entspannteWieder-
gabe, die ganz den eleganten, humor-
voll-unterhaltsamen Beethoven in den
Vordergrund stellt und die heroische
Attitüde des grossenTitanen allenfalls
kurz und ein bisschen ironisch aufblit-
zen lässt. EinAuftakt nach Mass!