Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

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42 FEUILLETON Samstag, 21. September 2019


Gnade uns im Herbst!


Nach dem Sommer laufen die Dichter zur Höchstform auf


PAUL JANDL

AlsRainer Maria Rilke einmal eine
ziemlich leichte Erkältung eingefan-
gen hatte und im Norwegerpullover
auf der Bettkante sass, hörte er draus-
sen die Mutter rumoren. «Auf den Flu-
ren lass dieWinde los», dichtete Rilke
in sein Heft. «Rainer Maria, Schlafens-
zeit!», rief die Mutter, und Rilke schrieb:
«Herr: es ist Zeit.»
DerRest war einWerk der Minute,
weil Rilke jetzt auf fiebrigeWeise in
Form war. Die Sache mitden Sonnen-
uhren.Früchte, letzte Süsse, schwerer
Wein. Gebongt. Und dann der Knaller:
«Wer jetztkein Haus hat, baut sichkei-
nes mehr. /Wer jetzt allein ist, wird es
lange bleiben». Die Mutter rief: «Schluss
mit Wachen, Lesen, Lange-Briefe-
Schreiben!», und damit war das Herbst-
gedicht auch schon im Kasten.
Herbst in der Literatur ist dann, wenn
die Dinge fallen. Es fällt «alles, was hold
und lieblich» (Hölderlin), es fallen «der
Schleier»(Mörike),«dieBlätter»(Eichen-
dorff, Lenau, Hebbel, Heine), «die Ähre»
(Fontane), «ein Hund» (Trakl), «die Kas-
tanien» (Sonja Drechsel-Walther) und
überhaupt «wir alle» (Rilke).Gerade war
der Sommer noch da,«er stand und lehnte
/ und sah den Schwalben zu» (Benn),aber
jetzt ist er weg.

Mit dem Grill auf dieTerrasse


Da soll einer nicht melancholisch wer-
den. Aber dass man richtig melancho-
lisch werden kann, dafür gibt es ja Ge-
dichte. Sie erinnern uns daran, dass der
Sommer nicht irgendwer ist, sondern
eine Metapher. Im Sommerreifen wir,
aber der Herbst! Gnade uns!
Und wenn man dann auch noch in
die Hände deutscher Dichter fällt, die
in bleiernen Zeilen mit demTod win-

ken! «Sieh umher, die falbenBäume! /
Ach! Es waren holdeTräume», schreibt
Uhland.Auch bei Eichendorff riecht es
unter denAchseln des Herbstes schon
streng. NachWehmut und Grab. Fo n-
tane legt metaphernmässig noch eins
drauf: «Es lischt das Licht / Und unser
Winter bricht herein.»
Man kann über den Herbst manches
sagen, aber es wird einem mit ihm nicht
langweilig. Vielleicht, dass «die Amsel
klagtindenentlaubtenZweigen»(Trakl),
aber dieFremdenverkehrsbranche kann
nicht klagen. Zumindest meteorologisch
ist der Herbst heute oft ein zweiter Som-
mer. Man schiebt den Grill noch einmal
auf dieTerrasse oder sitzt unter Heiz-
pilzen in Ganzjahreswirtshausgärten.
Es soll November geben, die es mit
einem Mai aufnehmenkönnen, aber da-
von schweigen die Dichter noch, wenn
sie das Herbstblau des Himmels zu-
sammenreimen.Die gleichen Dich-
ter, die lebhaft dieVogelflüge besingen
und den Süden, der heuteoft froh wäre,
etwas weiter im Norden zu sein. Man
könnte da schon einmal nachdenken,
aber das engagierte Gedicht ist leider
etwas aus der Mode geraten. Obwohl es
doch sogar einen «Herbst der Gedan-
ken» (André Heller) gibt!
Wenigstens die Apotheken und
Schminktippredaktorinnen machen sich
ihre Gedanken.Sie stellen die Blasenent-
zündungspräparate ins Schaufenster und
empfehlen gedeckteFarben.Die gedeck-
ten Farben sorgen dafür, dass unserTeint
aus den früh einsetzendenAbenddäm-
merungen nicht unnötig heraussticht.
Die Stadtreinigung pflügt unter-
dessen mitLaubsauggeräten durch die
Strassen, und die Schulkinder müssen
mit demütigenden Mützen aus dem
Haus. «Und sind die Blumen abge-
blüht, so brecht der Äpfel goldneBälle;
/ Hin ist die Zeit der Schwärmerei, / so

schätzt nun endlich dasReelle», dichtet
Theodor Storm.Was bleibt einem ande-
res übrig, denn wenn der Herbst etwas
kann, dann ist es dasReelle. Er klebt uns
feuchte Blätter an die Schuhsohlen und
hat Temperaturen im unguten Bereich.
Zwischen Mantel und Sakko.

In der gedämpftenWelt


DieKollektionenführenderModeunter-
nehmerkönnen sich nicht mehr ent-
scheiden, ob sie uns in kurzen Herbst-
hosen dem Klimawandel entgegenschi-
cken wollen oder mit wattiertenGanz-
körpermänteln. Aber der Herbstist
natürlich die Entscheidungsschwäche
per se. Er ist ein Übergang und auch
deshalb in der Literatur so beliebt.Aus
ihm lässt sich schreibend philosophi-
sches Kapital schlagen, das aus ande-
ren Jahreszeiten einfach nicht heraus-
zuholen ist. Übertriebene Hitze schlägt
sich bekanntlich aufs Haupt und die
Kälte sonst wohin.
Der Herbst ist dieJahreszeit für die
Bescheidenen. Für jene, die sich mit dem
milden Spektakel verfärbter Blätter zu-
friedengeben. Die nicht die schwere
Dröhnung des Sommers brauchen und
auch auf die Zumutungen desWinters
verzichtenkönnen. Die mögen, was zum
Beispiel Mörike mag. Mit dem Dichter
sehen sie gerne «herbstkräftig die ge-
dämpfteWelt / Im warmen Golde flies-
sen». «GedämpfteWelt», so soll es sein.
Jedenfalls: DerHerbst wird schön,
und wird er nichtschön, dann wer-
den wir ihn auch überstehen. So wie
wir dann denWinter überstehen.Was
macht der Dichter nach dem Herbst? Er
bleibt als Dichter im Amt, schaut schrei-
bend in den Schnee und in die klirrende
Kälte. Oder er lässt sichrechtzeitig ein-
schneien.Für «einenkellertiefenWin-
terschlaf» (ErnstJandl).

Und eines Morgensverpackt man sichselber wieder inwattierte Mäntel. TONY GENTILE / REUTERS

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Die coolen


Socken


von Weimar


Ein typisc her «Tatort»
mit DornundLessing

INNA HARTWICH

Eigentlich gehtes ihnengut.So richtig
gut. Lessing (Christian Ulmen) hat nach
15 Jahren einen Einbrecher vor Gericht
gebracht, der gemeinsame Sohn wird
fün f, der erste grosse Kindergeburts-
tag steht an. Doch der«Tatort» ausWei-
mar wäre nicht der«Tatort» ausWeimar,
wenn sich diese ganze angesammelte
Erfolgsgrütze von einem Momentauf
den anderen verflüssigen würde.
Plötzlich ist nicht der von Lessing
gestellte Einbrecher hinter Gittern,
sondern Lessing selbst. Und auch Kira
Dorn (Nora Tschirner)wird wegenver-
suchten Erstickens gesucht. DieKom-
missare müssen fliehen und gebensich
als Möchtegern-Thelma-und-Louise.
Mit eineralten blauen DDR-Duo, die
in jederKurve den Geist aufzugeben
droht. Das passt zu denWeimarer Skur-
rilitäten.
Mit den wunderbaren Dialogen
von Urmel Clausen und Andreas Pflü-
ger versucht sich das Drehbuch (Sebas-
tianKutscher, DenizYildizi) an einem
schrägenRoadmovie. Das wirkt wie der
Eisberg der«Titanic», der hier wie ein
Stoffzelt aussieht, getragen von einer
gescheitertenTheaterdirektorin. «Alles
Freaks», sagt die interne Ermittlerin Eva
Kern (Nina Proll) und gibt, ebenfalls
freakig, die kühle Macherin – und der
Folge ihren Namen.Das Persiflieren von
Genres funktioniert auch dieses Mal.
«Ergibt das irgendeinen Sinn?»,fragt
«dieKern». In Weimar, diesem«Tatort»-
Dadaismus, muss es das gar nicht. Die
Parodie bringt zumLachen, selbst wenn
Kirazwischen Zelleund Konfetti–ver-
ängstigt, überfordert, hilflos – alles weg-
schiebt und zu weinen beginnt. Ein un-
gewohnt emotionalerAugenblick inmit-
ten der gewohntenWortakrobatik Les-
sing-Dornscher Art.
DerFall um eine verfluchte indische
Statue hat so einiges miteinander ver-
mengt, um denKuriositäten-Faktor zu
steigern. So sehr, dass selbst der stets Goe-
the zitierende Lessing, diese «coole So-
cke», wie ihn sein Chef bezeichnet,einmal
aus rastet undalles für «Bullshit» hält. Zu-
demmüssen auch zweiLiebesgeschichten
herhalten. Eine alte – zwischenKern und
demKommissariatsleiter Stich – und eine
ganz frische und alle staunen lassende
zwischen Lupo, diesem «König der Be-
kloppten», und einer geheimnisvollen
Aurélie. Ein alter Bruderzwist,ein neuer
Kunst-Deal und esoterische Einsprengsel
bringen selbst «die Kern» an denRand
ihrerFakten-Zählerei.
Dableibt nur,ganz nach Anatole
France, vernünftig zu denken und un-
logisch zu handeln. Im unlogischen Han-
deln sind Lessing und Dorn auch die-
ses Malspitze, das vernünftige Denken
geben sie dennoch nicht auf. So sitzen
sie in der geklautenDuo, ratt ern über
Feldwege und sind so frei – um dieWelt
aus derWackelaugen-Brille zu betrach-
ten und auf dem KindergeburtstagKon-
fetti-Reste aufzusammeln. Oder wird es
gar keinen Kindergeburtstag geben?

«Tatort» aus Weimar: «Die harte Kern», am
Sonntag, 22.September, um 20.05 Uhr bei
SRF 1 und um 20.15 Uhr bei der ARD.

Sie vermittelte


das ungarische


Schaffen


Zum Tod der NZZ-


Literaturk ritikerin Eva Haldimann


ILMA RAKUSA


1927 in Budapest geboren, verbrachte
Eva Haldimann fast ihr ganzes Leben
in der Schweiz, wo sie ab den frühen
sechzigerJahren als Literaturkritikerin
in Erscheinung trat.Für die NZZ ver-
fasste sie jahrzehntelang Besprechungen
ungarischer Gegenwartsliteratur, wo-
bei sie wichtige Neuerscheinungen vor-
stellte, die noch nicht denWeg zu west-
lichenVerlagen gefunden hatten.
Auf ihre Entdeckerfreude und ihr
sicheres literarisches Urteil warVer-
lass, so mancher ungarische Autor
verdankte sein deutschesDebüt der
rührigenVermittlerin. Unter anderen
auch Imre Kertész. In einer Sammel-
besprechung vonTiteln zur jüdischen
Thematik (19./20. März1977) erwähnte
Eva HaldimannKertész’ «Roman eines
Schicksallosen», der1975 in Budapest
erschienen und kaum beachtet worden
war. Den Bericht des jugendlichen Ich-
Erzählers über seineLagererfahrungen
in Auschwitz, Buchenwald und Zeitz
charakterisierte sie so: «In dieser Lei-
densgeschichteentstehtkeinenAugen-
blick der Eindruck einer passiven Iden-
tifikation mit dem Geschehen.Das
Absurde dominiert: Kertész wirft den
Opfern die Anpassung an die zu ihrer
Vernichtung ersonnenen Maschine,
die Identifikation mit ihrem Schick-
sal vor. Sein Anliegen ist dieDarstel-
lungdes erwachendenBewusstseins,
das sich gegen jegliche Akzeptierung
eines Determinismus der Macht und
Gewalt sträubt.»
Zufällig erfuhr ImreKertész von
diesem Artikel und meldete sich bei
der Kritikerin.Worauf sich zwischen
den beiden ein Briefwechsel ent-
spann, der dieJahre vonKertész’ sen-
sationeller Rezeption im deutschspra-
chigenRaum bis zur Nobelpreisverlei-
hung 2002 umfasst, nachzulesen im äus-
serst aufschlussreichenBand «Briefe an
Eva Haldimann» (Rowohlt, 2009). Be-
dauerlicherweise fehlt in der Publika-
tionHaldimannsPart. Und doch war
sie es, die den wesentlichen Anstoss zur
Entdeckung diesesAutorsgabund die
jedes seiner Bücher sorgfältig besprach.
Eva Haldimann war effizient, dabei
aber höchst bescheiden; sie hielt sich



  • obwohl mit den besten ungarischen
    Schriftstellern befreundet – dezent im
    Hin tergrund.Vonihren Büchern«Im
    Mittelpunkt Ungarn», «Aspekte und
    Profile der ungarischen Gegenwarts-
    prosa» und «Momentaufnahmen aus
    dreissigJahren ungarischer Literatur»
    machte sie wenigAufhebens, und nur
    nebenbei erwähnte sie ihre Übertra-
    gungen von Magda Szabó ins Deutsche.
    IhreLosung war:Da seht,was die unga-
    rische Literatur zu bieten hat, an Quali-
    tät kann sie es mit den grossen europäi-
    schen Literaturen aufnehmen.
    Mészöly, Nádas, Konrád, Esterházy,
    Kertész, Krasznahorkai,Kornis, Gara-
    czi – und viele mehr. Sie irrte sich nicht.
    Nun ist die leidenschaftlicheVermittle-
    rin, die1991 mit dem UngarischenVer-
    dienstorden für diePopularisierung lite-
    rarischerWerkeim Ausland ausgezeich-
    net wurde, in ihrem 93. Lebensjahr in
    Genf gestorben.

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