Samstag, 21. September 2019 LITERATUR UND KUNST 43
Phono
Ein Klang ist grösser als ein Wort
Manfred Eichers Label ECM ist ein Mekka für die Virtuosen des Jazz – seit fünfzig Jahren sp rengt es Grenzen des Sounds
STEFAN HENTZ
Sommer1969: Weltweit steckt derJazz
in einer Krise. ZweiJahre zuvor hatte
ihn der Tod von John Coltrane um
eines seiner Gravitationszentren ge
bracht.Das beliebte Narrativ, wonach
derJazz seine gestalterischenFreihei
ten stetig und quasi fortschrittlichaus
weite, hatte den Saxofonisten allerdings
an Grenzen gebracht.
Die Morde an Martin Luther King
undRobertKennedy imJahr 1968 hatten
die Hoffnung zunichte gemacht,dass der
Jazz einWerkzeug seinkönnte im eman
zipa torischen Kampf der afroamerika
nischen Bevölkerung. Und schliesslich
machten imAugust1969 die dreiTage
Liebe, Frieden und Musik am Musik
fes tivalWoodstock deutlich,dass der
Rock denJazz endgültig von der Bühne
populärer Musikgedrängthatte.
Jenseitsder Glaubenskämpfe
In München aber arbeitet Man
fred Eicher an der Gründung eines
neuen Plattenlabels. Seine Idee war es,
Jazzaufnahmen die Hellhörigkeit und
das technischeFingerspitzengefühl an
gedeihen zu lassen, die er von Kam
mermusikproduktionen kannte. Dabei
spannte der1943 in Lindau geborene, in
Ber lin ausgebildeteKontrabassist, der
nichtnur beiden Berliner Philharmo
nikern, sondern auch mit gestandenen
JazzAvantgardisten gespielt hatte, mit
zwei Mitstreitern zusammen: mitdem
(kürzlich verstorbenen) Diskografen
Manfred Scheffner und dem Kaufmann
Karl Egger. Das Projekt sollte vorab
zwardemJazz Gegenwart und Zukunft
sichern. Schon der Name ECM – Edi
tionof Contemporary Music – zeigte in
des, dass man kleinliche Glaubens und
Revierkämpfe im BereichJazz hinter
sich lassen wollte.
Dass drei derersten fünf ECM
Produktionen Pianisten präsentierten,
könnte mit den Erfahrungen, die Eicher
zuvor beiAufnahmen klassischer Kam
mermusik für die Deutsche Grammo
phon gesammelt hatte, zusammenhän
gen: Bei derWiedergabe vonJazzplat
ten klang das Klavier häufig flach, farb
los, unbefriedigend. Mit der Arbeit am
Klang erweiterte er aber zugleich auch
das ästhetischeFeld.
Es begann mit dem afroamerikani
schen Pianisten MalWaldron, der zu
der Zeit in München lebte und gerade
dabei war,sich von denRoutinen des
MainstreamJazz zu befreien.Auch Paul
Bley erwies sich als poetischer Prophet
der Freiheit. Und der Stuttgarter Pianist
WolfgangDauner verband die Botschaft
Grenzen sprengender Experimentier
freude mit einem unverkennbar euro
päischen Gestus.
Sei ther ist ECM ein Mekka für die
stilbildende Garde desJazzpianos–von
Chick Corea bisJulia Hülsmann, von
Bobo Stenson bis NikBärtsch.Keiner
aber hat den Brand ECM so geprägt wie
der PianistKeith Jarrett, dessenAufnah
men nach dem legendären «Köln Con
cert» (1975) zu einer Art Lebensver
sicherung desLabels wurden.Auch die
jüngsten Neuerscheinungen, die so ver
schiedene Pianisten wie Giovanni Guidi
(i m Quintett von EnricoRava undJoe
Lovano), Benjamin Moussay (an der
Seite von Louis Sclavis), Ethan Iver
son (im Zusammenspiel mitTom Har
rell) undYonathanAvishai (mit dem
TrompeterAvishai Cohen) präsentie
ren, demonstrieren die enormeVielfalt
von ECM.
Bereits imFrühjahr präsentierte das
Doppelalbum«The TransitoryPoems»
von CraigTaborn undVijay Iyer, zweien
der Pianisten, die heute einen frischen
Spross der improvisierten Klaviermusik
auf ManfredEichersLabel verkörpern,
noch einmal im Kleinformat das ganze
Spektrum der spielerischen Möglichkei
ten, die sich auf ECM mit dem Klavier
verbinden.
NorwegischeTönung
Noch bevor die ersten Sessions unter
derFahne von ECM zum ersten Mal
Geburtstag feiernkonnten, hatte Man
fred Eicher in Norwegen demLabel
einen zweiten prägenden Stempel auf
gedrückt. Bei Aufnahmen mit dem
Quartett des jungenTenorsaxofonis
tenJan Garbarek hatte Eicher einen
Studiotechnikerkennengelernt, dessen
Name mit der weiteren Entwicklung des
Sounds desLabels eng verbunden blieb:
JanErikKongshaug.
Hatte sich Garbarek auf «AfricPep
perbird» (1970), seinem ECMDebüt,
als ein Saxofonist präsentiert, dessen
überbordendes, energiegeladenes Spiel
auf seineFaszination für Musiker aus
der afroamerikanischen Spielart des
Free Jazz verwies, kühlte sich seinTon
in der Zusammenarbeit mitJan Erik
Kongshaug bald spürbar ab. DieRei
beflächen, an denen er sein Spiel poe
tisch aufwärmte, entfernten sich vom
traditionellenJazz, näherten sich skan
dinavischenVolksliedern, barockerVo
kal und Sakralmusik und vielen weite
ren Quellen.So wurden bereits frühTen
denzen deutlich, denen dasLabel spä
ter in Gestalt seiner «New Series» mit
komponierter Musik oder auch in den
Kooperationen mitFilmkünstlern wie
JeanLuc Godard und vielen anderen
genreübergreifenden Projekten Gestalt
verlieh.
GarbareksindividuellerTon wurde
immer asketischer – und zugleich per
sönlicher. Der Saxofonist, der wieJar
rettdem Label seit den frühestenTa
gen treu geblieben ist und es dank sei
nen erfolgreichen Alben auch finan
ziell stützte, stiess mit der Zuspitzung
seiner Musik bisweilen dannauchauf
Ablehnung. Sein mit vielHallverhan
gener Sound schien einigen Kritikern
nicht mehr als eine Masche zu sein,
die romantisierende Schönheit seines
Spiels nicht mehr als saturierter Kitsch.
Damals kam dieRede vom «ECM
Sound» auf, der sich allerdings umso
weniger aufspüren lässt, je genauer man
si ch mit dem Programm desLabels aus
einandersetzt.
So wenig, wie sich die gegen 20 00
ECMVeröffentlichungen unter den
NennerJazz oder sonst einen stilisti
schen Begriff bringen lassen, so wenig
gibt es einen typischen ECMSound.
Typisch scheint vielmehr die klangliche
Differenzierung. Eicher ist ein akri
bischerArbeiter, der das Handwerk
der Musik gelernt hat, ein Produzent,
der nicht nur die Sprache der Musiker
spricht, sondern auch wie einMusiker
agiert. Die Musiker selber berichten
immer wieder, wie Eicher die Struktu
ren der Musik sehr nuanciert erfasse
und fordernd in ihre dramaturgische
Ausgestaltung eingreife.
Jazz und Selbstreflexion
Jedes neue Projekt verlangt einen spe
zifischen Sound: im Kleinen, wo jedes
einzelne Instrument möglichst facetten
reich undräumlich zur Geltungkom
men soll, wie im Grossen, wo es um
dieBalance des Gesamtklanges geht,
der einem konzertanten Hörerleb
nis entspricht. So steht nun das eins
tige SchmuddelkindJazz, das Mythen
einer erotisierten Genese in Storyville
mit sich schleppt,plötzlichgleichwertig
neben derkomponiertenKunstmusik
und anderen Aggregatszuständen kul
tureller Selbstreflexion wie bildender
Kunst, Literatur,Theater, Kino.
Auch heute noch ist Manfred Eicher
das unangefochtene Zentralgestirn im
Hause ECM. SeineWahrnehmung und
Genauigkeit, seine vielseitige Bildung
und sein Geschmack ergeben denKom
pass, der die Richtung der mannigfachen
Projekte definiert. Und als Produzent
bucht er die besten Studios mit den bes
ten Tontechnikern und sorgt dafür,dass
ihre Musik auf denAufnahmen unter
seinerRegie so gut klingt wie noch nie.
Genau das ist bis heute das Marken
zeichen von ECM geblieben: dieVerbin
dungvon Grenzen sprengender Intensi
tät mit einem einladenden Sound, trans
parent und klar, nuancenreich und viel
schichtig, räumlich und tief. Und immer
wieder anders.
Enrico Rava/JoeLovano: Roma. – A vishai Cohen/
YonathanAvishai : Playing the Room.– Louis
Sclavi s: Characters on a Wall.– Ethan Iverson
Quartet with Tom Harrell: Common Practice. –
Vijay Iyer / Craig Taborn: The Transitory Poems.
Dank der richtigenVerkabelung kommen die expressiven Signaleder Musik auchauf denTonträger. SELINA HABERLAND / NZZ
ECM zeigte,
dass man kleinliche
Glaubens- und Revier-
kämpfe im Bereich Jazz
hinter sich lassen wollte.