LITERATUR UND KUNSTLSamstag, 21. September 2019 Samstag, 21. September 2019 ITERATUR UNDKUNST
MARCUSSTÄBLER
Clara Schumann wurde lange Zeit vor
allem als Ehefrau wahrgenommen –
als Lebensbegleiterinund Muse eines
genialenKomponisten. DieTatsache,
dass sie selbst eine herausragende
Künstlerpersönlichkeit war, die das
Musikleben des19.Jahrhunderts mit-
geprägt hat, ist erst ganz allmählich ins
Bewusstseingesickert. Zum Clara-Schu-
mann-Jubiläum, 200Jahre nach ihrem
Geburtstag am 13. September 1819,
rückt die Pianistin,Komponistin, Kon-
zertmanagerin und Editorin nun noch
stärker in denFokus. Kaum einen ande-
renInterpreten beschäftigt sie so inten-
siv wie dierenommierte PianistinRagna
Schirmer, die ihr imVerlaufe dieses Ge-
denkjahres über150 Konzerte widmen
will. «Das ist natürlich eine Herausfor-
derung», bekennt Schirmer. «Aber ich
erlebe das auch als ein Geschenk, weil
ich einer faszinierendenKünstlerin sehr
nahekommen kann.»
Die erste gedankliche Begegnung
liegt schon über dreissigJahre zurück,
wie sichRagna Schirmer erinnert. «Als
Teenager habe ich die ‹Kinderszenen›
vonRobert Schumann gelernt und hatte
dafür einealte Notenausgabe – mit den
Fingersätzen von Clara.Was mich daran
sofort beeindruckt hat, war die Sorgfalt
im Umgang mit dem Notentext, in dem
diePolyfonie in allen Mittelstimmen er-
halten bleibt.Daraufhin habe ich ange-
fangen, über sie zu lesen, ich habe mich
im Studium mit demThema beschäftigt,
um herauszufinden:Wer ist dieseFrau,
die so besonders Klavier gespielt hat?»
DieseFrau wird 1819 als ClaraJose-
phineWieck in Leipzig geboren und
nachder Scheidung der Eltern von
ihremVater, dem Musikalienhändler
und KlavierpädagogenFriedrichWieck,
zum pianistischenWunderkind gedrillt.
Mit neunJahren debütiert sie im Leip-
ziger Gewandhaus; dasKonzert ist der
Startschuss zu einer sechsJahrzehnte
währenden Karriere, die sie zur berühm-
testen Pianistin des 19.Jahrhunderts
macht und auf die wichtigstenPodien in
ganz Europa führt.Auch finanziell ist sie
erfolgreich: Mit manchemAuftritt ver-
dientsiemehr als ein mittlerer Beamter
im ganzenJahr, auch deshalb kann sie –
seit demTod ihres MannesRobert im
Jahr1856 alleinerziehende Mutter –
sieben Kinder ernähren.Dafür ist sie
jeweils von Oktober bis März aufTour
und absolviert ein ungeheuresPensum.
Originalprogramme
Über 1300 Programmzettel hatRagna
Schirmer im Schumann-Haus in Zwi-
ckau gesichtet und abgetippt.Eine müh-
selige Arbeit, acht Monate lang. «Das
muss man schon wollen», räumt die Pia-
nistin lachend ein. «Aber es hat sich ge-
lohnt. Jetzt kann ich in meinem Archiv
recherchieren, was sie wann und wo ge-
nau mit wem gespielt hat.» Die histori-
schen Programme von Clara Schumann
bilden die Grundlage für Schirmersrege
Tätigkeit in diesemJahr: Ihr Ziel ist es,
2019 möglichst viele originaleKonzert-
orte zu bereisen und dort die originalen
Programme zu spielen.Das waren in den
meistenFällenkeine Soloabende, wie
Schirmer betont: «Clara Schumann hat
häufig Solowerke mit Kammermusik
oder auch mit Stücken für Chor oder
kleines Orchesterkombiniert, wie es da-
mals üblich war. Reine Klavierabende
gab es erst später, und dann nur in Eng-
land. Aber sie hat als eine der Ersten
überhaupt Klaviersonaten als Ganzes
aufgeführt und bei der Zusammenstel-
lung derWerke darauf geachtet, dass sie
zusammenpassen. SolcheVorstellungen
wirken bis in den heutigenKonzertall-
tag nach, ebenso wie ihre Haltung, dass
während einesKonzerts zugehört und
nicht etwaTee getrunken oder im Saal
herumgelaufen werden sollte.»
Einestarke Frau
In derRepertoire-Auswahl der Pianis-
tin lassen sich klareVorlieben erkennen.
«Ein Schwerpunkt ist Beethoven.Franz
Grillparzer hatte schon, als sie noch ein
junges Mädchen war,geschwärmt, Clara
habe den Schlüssel zum Schatzkästchen
Beethoven.»AuchWerkeRobert Schu-
manns tauchenregelmässig in ihren
Programmen auf: «Natürlich verfolgte
sie die Mission, dieWerke ihres ver-
storbenen Mannes am Leben zu hal-
ten. Siekommen in über neunzig Pro-
zent derKonzerte vor. Mendelssohn und
Chopin spielen ebenfalls eine wichtige
Rolle. Brahms dagegen weniger, zumin-
dest seine Solowerke. Auch ihre eigenen
Stücke spielte sie eher selten.»Wahr-
scheinlich, so nimmt Schirmer an, habe
sich Clara Schumann ihrenkomponie-
rendenKollegen gegenüber nicht eben-
bürtiggefühlt und ihr eigenes Schaffen
daher zurückhaltend aufs Programm
gesetzt.AuchRagna Schirmer sieht das
grössteVerdienstClaras in ihrem pianis-
tischenWirken, schätzt sie aber eben-
falls alsKomponistin. So führt sie das
Klavierkonzert, das Clara Schumann be-
reits im Alter von 16 Ja hren schrieb, im
Jubiläumsjahr gleich mehrfachauf.
In ihrer Jahrzehnte währendenAus-
einandersetzung mit Clara Schumann
ist Schirmer nicht bloss derKünstlerin,
sondern auch derPersönlichkeit näher
gekommen. «Sie muss eine ungeheure
physische und psychische Stärke gehabt
haben, sonst wäre so eine Karriereun-
denkbar gewesen. DieTatsache, dass
sich ihre Mutter vomVater hat schei-
den lassen, als sie fünfJahre alt war – zu
Beginn des19.Jahrhunderts ein Skan-
dal, der mit dem Entzug des Sorgerechts
bestraft wurde –, wird sie hart getrof-
fen haben. Aber vielleicht auchgezeigt
haben, dass man alsFrau mutige Ent-
scheidungen treffen kann. Und es war
dann ja mutig von ihr, als alleinstehende
Frau durch Europa zureisen.»
ZurAurader faszinierendenKünstle-
rin und emanzipiertenFrau Clara Schu-
mann gehörte wohl auch ein selbst-
bewusstesAuftreten, das sich in vielen
zeitgenössischen Zeugnissen spiegelt.
Ragna Schirmer klingt fast wie einFan,
wenn sie von ClarasAuraschwärmt, als
wäre sie selbst dabei gewesen. «Sie hatte
eine grosseWirkung alsFrauund wusste
auch darum, das hat sie mit derWahl
ihrer Kleidung unterstrichen. Sie muss
einer jener Menschen gewesen sein, bei
denen sich die Atmosphäreverändert,
wenn sie einenRaum betreten.»
«Madame Schumann». Kammermusi k und Kla-
vierwerkevon Claraund Robert Schumann,
Fanny Hensel,Beethoven, Händel u .a. Ragna
Schirmer(Kla vier), Nora Frie drichs (Sopran),
Iason Keramidis (Violine), Julien Heichelbech
(Viola), Benedict Klöckner (Violoncello). Berl in
Classics CD 885470 011943 (2 CD).
Wer ist diese
Frau, die so
Klavier spielte?
Zum 200 .Geburtstag von Clara Schumann hat
Ragna Schirmer Erstau nlich es zutage ge fördert
Im aufmerksamenZuhören des Publikumswerden Klang undTonzueiner emotionalenBotschaft. TONY O’BRIEN/REUTERS
«Es war mutig
von Clara Schumann,
als alleinstehende
Frau durch Europa
zu reisen.»
Ragna Schirmer
Pianistin
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