Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

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LITERATUR UND KUNSTLSamstag, 21. September 2019 Samstag, 21. September 2019 ITERATUR UND KUNST


Im aufmerksamenZuhören des Publikumswerden Klang undTonzueiner emotionalenBotschaft. TONY O’BRIEN/REUTERS

Vom Abgrund bis in lichte Sphären


Wolfgang Rihm und die Orgel – eine CD-Edition schau t zurück in di e Zukunft


ELEONORE BÜNING

Sie ist gross, kostspielig, vornehm,mäch-
tig und nicht transportabel.Aus all die-
sen Gründen hat sich die Orgel denTi-
tel «Königin der Instrumente» erwor-
ben.Weit weniger bekannt ist, dass sie
auch als ein «Instrument derJugend»
dient:Viele grosseKomponisten haben
als Kind auf der Orgelbank gesessen, um
dieWelt der Klänge zu erkunden, um zu
improvisieren und sichauszuprobieren –
Hauptsache, siereichten mit denFüssen
ansPedal!Wolfgang Rihm war elf, als er
sich zum ersten Malden Kirchenschlüs-
sel ausbat, um auf einer Orgel zu spielen.
Das wurde ihm gestattet, damals in den
Sommerferien, in dem Schwarzwaldort
Bernbach bei Herrenalb,wo dieFami-
lie Urlaub machte. Er hat in denFolge-
jahren viele weitere Kirchenorgeln aus-
probiert, hat frei fantasiert und improvi-
siert, Choralvorspiele weitergesponnen,
stunden-, tagelang.Einmal, so erinnert
er sich, wiederum in Bernbach sei es ge-
wesen, sei ihm der Strom abgestellt wor-
den, weil sich die Nachbarn über den
«Lärm» beschwert hätten. Einander-

mal, inBaiersbronn,habe ihmeinKur-
gast, dem dasLärmen gefiel, zwei Mark
geschenkt:«Das war das erste Geld, das
ich mit Musik verdient habe!»

Blick desVoyeurs


Die erstenkomponiertenWerke Rihms
für Orgel stammen von1966.Dawar
er bereits vierzehn und auch schon da-
heim in Karlsruhe in diversen Kirchen
unterwegs. Besonders gern spielte er
in der dortigen Pfarrkirche St. Stephan
auf der schönen,neuen Klais-Orgel mit
ihrem gross besetzten Schwellwerk. Ste-
phanskantorAndreas Schröder war es,
der ihn mit der sinfonisch-orchestralen
Wucht der französischen Orgelmusik
bekannt machte, mit Olivier Messiaen,
Jehan Alain und MauriceDuruflé, deren
Einfluss auf RihmsPersonalstil unver-
kennbar ist. Schröder sind denn auch,
«inDankbarkeit undVerehrung», etli-
che der frühenFantasien undTocca-
ten gewidmet, die kürzlich vonMar-
tin Schmedingaus ihrem Dornröschen-
schlaf imBasler Rihm-Archiv derPaul-
Sacher-Stiftung erlöst und erstmals
eingespielt wurden. Insgesamt präsen-
tiert diese Gesamteinspielung sämtliche
zwischen1966 und 2012komponierten
Solowerke Rihms für Orgel, insgesamt
vierunddreissig Stücke, zu gut zwei Drit-
telnUnbekanntes.
Es handelt sich dabei nur um einen
ve rgleichsweise kleinenAusschnitt aus
einem riesigen Schaffenskatalog. Rihms
Leidenschaft für die Orgel verblasste, als
er zwanzigjährig Abitur machte und zeit-
gleich sein Examen an der Karlsruher
Musikhochschule ablegte. Die Zeit für
seinradikales Orchesterwerk «Dis-Kon-
tur» war gekommen, für öffentlicheAuf-
tri tte und dasAufmischen grosser Sin-
fonieorchester. Und doch bietet diese
Edition etwas ganzAusserordentliches:
Sie erlaubt Blicke in dieWerkstatt des
Komponierens,die sich, eben weil die-
serKomponist damals noch so jung ist,
immer wieder in jene einesVoyeurs ver-
wandeln.
Keine ornamentalen Spielereien
sind da zu besichtigen, vielmehr blutige
Experimente.Verschiedene stilistische
Einflüsse scheinen auf in diesem wohl-
geordneten Chaos jugendlicher Selbst-
erprobung. Extrem ausgestellteVirtuo-
sität wechselt mit zurückgenommener
Innerlichkeit.Tonales weicht Atona-
lem, Bitonales taucht auf, Zwölftöniges,

Serielles. Blockhaft schroff steht Zar-
tes nebenWildem,schon in der «1.Fan-
tasie in e-Moll» von1966. Sie beginnt
mit einer kraftvoll punktierten Intrada-
Fanfare, trumpft auf mit irremPassagen-
werk,landet unverhofft in knallhartem
Dur. Kein musikalischer Gedanke, der
nicht mit einemAusrufezeichen daher-
käme.Auch eine PriseMaxReger blitzt
darin auf. Doch in den Akkordballungen
wie in den irisierenden Pianissimo-Pas-
sagen grüsst zugleich, quasi zurück in die
Zukunft, der spätereRihm.
Die«Ariavariata I»,1968entstanden,
steht unter Einfluss Schönbergs. Zwei
Jahre später, in «Parusie», op.5, einer
Erdbebenmusik, die von derWieder-
kunft Christi amJüngstenTag berich-
tet, hat Rihm vollends zu seiner subjek-
tiven Klangsprache gefunden, in heftig
auffahrenden Espressivo-Gesten, kra-
chenden Clustern, knurrenden Klang-
mixturen,Tönen wie von zersplittern-
dem Glas. Und lehnt sich ein bisschen
an Ligeti an.

BewahrteImprovisationen


Als Bonus bietet das Album, neben
Interviews mitKomponist und Interpret,
fünf echte Improvisationen an, klang-
technisch aufbereitet: Es spielt der da-
mals18-jährige Rihm!Tobt sich aus an
der Scherpf-Orgel in St.Peter undPaul,
benutzt ein Mono-Tonbandgerät und
spricht schnell und leise kurze Ansagen
dazwischen:«Toccata über B–A–C–H.»
Die erschliesst sich gewaltsam den ge-
samtenTonraum, vom schwärzesten Ab-
grund bis in lichte Sphären.
ZurRecord-Release-Party, live am
Originalschauplatz, spielte Schmeding
unlängst auf der besagten Klais-Or-
gel in Sankt Stephan.Viele Karlsruher
waren gekommen, darunter auch der
inzwischen 67-jährige Komponist. Es
war eine wunderliche, herzerwärmende
«Revue sentimentale»,gekrönt von der
Uraufführung eines skurrilen Musik-
theaters à la Kagel namens «Clamatio
für Orgel, Instrumente undVerbales»,
Baujahr1971. Damals aufmüpfig, inzwi-
schen aus der Zeit gefallen, dargeboten
im milden Licht der Abendsonne, das
durch die Kirchenfenster fiel.

«Wolfgang Rihm und die Orgel». Sämtliche
Werke für Orgel solo. Martin Schmeding,
Wolfgang Rihm u. a.Cybele Records KiG0 12
(4 SACD).

Und wieder inspiriert Afrika die Pop-Musik


Africa Express, 2006 lanciert, tr ägt afrikanische Beats in di e Welt hinaus. Das letzte Album stammt aus Johannesburg


KNUT HENKEL

Die Einladung kam spontan und völlig
überraschend. «EndeNovember 2 017
hat michRemi Kabaka eingeladen, den
Africa Express nachJohannesburg zu
begleiten», erzählt der22-jährige House-
ProduzentPoté. Kabaka ist ein nigeria-
nischer Drummer, der schon dieRolling
Stones begleitet hat. Gemeinsam mit
Damon Albarn hat er beiPotés letztem
Album Hand angelegt.
Poté selber ist in Londons Klubszene
berühmt für seine basslastigenDance-
Tr acks, die von House-Klängen aus
allerWelt inspiriert sind.Auch zur so-
genannten Gqom-SzeneinDurban,die
für eine mitreissende südafrikanische
House-Spielart steht, unterhält er gute
Kontakte.So warPoté prädestiniert,den
Africa Express auf derReise nach Süd-
afrika zu begleiten.

Austausch auf Augenhöhe


Von dem 2006 initiierten Musikprojekt,
das Musiker aus Afrika mit Europäern
und Amerikanern zusammenbringt, um
stilbildende afrikanische Beats bekannt-
zumachen,hattePoté wenig Ahnung.
Sofort war er aber begeistert, hier auf
Musiker zu treffen, mit denen er bis-
her höchstens Sound-Files ausgetauscht
hatte. «Ich kam mir bei Africa Express
bald vor wieein Kind, das in einem Spiel-
zeugladen ausgesetzt worden ist, mit

denTaschen voller Geld»,grinst er.Im
Januar 20 18 landete derTr oss inJohan-
nesburg. ImResort, in dem die Musiker
unterkamen, waren eine Handvoll Hüt-
ten studiomässig eingerichtet worden,
so dass gleich neueTr acks produziert
werdenkonnten. «Man musste sich nur
die Leute suchen, mit denen man etwas
auf die Beine stellen wollte. Ein Schla-
raffenland!» Sofort begannen die zwan-
zig südafrikanischen Musiker und die
zwölf Gäste–unter ihnenPoté,Damon
Albarn und Nick Zinner (von denYeah
YeahYeahs) – zukomponieren und zu
produzieren. Es entstanden 18 Tr acks,
die nun auf dem Album «Egoli» (das
Zulu-Wort fürJohannesburg) versam-
melt sind und von der popmusikalischen
Vielfalt Südafrikas zeugen.
«Egoli» ist auch eine Hommage an
die pulsierende StadtJohannesburg,in
der viele musikalische Stränge zusam-
menlaufen. Kwaito heisst ein auf ver-
langsamten House-Beats basierendes
Dance-Genre,Gqom lässt sich als des-
senFortentwicklung bezeichnen. Aber
Südafrika hat auchSynthie-Pop, groo-
vendenR’n’ B,Zulu-Folk undFuture-
Ghetto-Punk zu bieten.
Für Letzteren ist die Sängerin
Moonchild Sanelly, die in gleichfünf
Stücken vertreten ist, dasAushänge-
schild. Die quirligeFrau mit den blau
gefärbtenRastalocken ist eine singende
Botschafterin fürFrauenrechte. Musi-
kalischkennt siekeine Berührungs-

ängste und fusioniertlocker Electro,
Jazz, Afro-PunkundPop.Das macht
sie zu einerKünstlerin, die optimal ins
Profil von Africa Express passt. Dem
Song «SiziFreaks» drückt sie mit ihrem
schnoddrigen Gesangsstil den Stempel
auf. Auch an der SeitevonDamon
Albarn weiss sie in «I Can’t Move» zu
überzeugen, einer gemächlichenDis-
co-Nummer.

Brückenbauen


Viele Musiker beeindrucken durch ihre
Flexibilität. Sie zeigt sich darin, dass sie
gleich bei mehreren Stücken mit von der
Partie sind. Der House-SpezialistPoté
etwa hat mit Muzi, einem Electro-Pio-
nier aus KwaZulu-Natal, zusammen-
gearbeitet, überdies das experimentier-
freudigeDuo Radio 123 schätzen gelernt
und schliesslich den Hip-Hop-Track
«No Games» produziert, zusammen mit
der Sängerin Sho Madjozi.Freundschaft
hat er zudem mit dem Londoner Sän-
ger Ghetts geschlossen, mit dem er auch
künftig zusammenarbeiten will.
Damon Albarn, der Musikproduzent
Stephen Budd und derJournalist Ian
Birrell sind das Dreigestirn hinter Af-
rica Express. Sie haben sich 2005 mass-
los über die Live-Aid-Konzerte zuguns-
ten Afrikas geärgert,die BobGeldof
damals organisierte. Das sei eine Elite-
veranstaltung fürWeisse; ein einziger
afrikanischer Musiker sei mit von der

Partiegewesen, kritisierte Albarn.Dar-
aufhin wurde 2006 der Africa Express
aus derTaufe gehoben, um dieVielfalt
der afrikanischen Musikszene interna-
tional hörbar zu machen.
Das hatte fürBands wie Songhoy
Blues, die2013 bei den Sessions von
Africa Express im malischenBamako
entdeckt wurde, bereits erfreulicheFol-
gen. Sie nahmen einrockiges Blues-
Album auf, gingen in Europa aufTour,
wurden so bekannt, dass sie derzeit an
einem zweiten Album arbeitenkönnen.
Es war der (unterdessen verstorbene)
Musikmanager Marc-Antoine Moreau,
der damals die Infrastruktur in Malis
HauptstadtBamako aufbaute.Aus den
Sessionsresultierte das Album «Maison
desJeunes» – ein Hoffnungsschimmer
für Mali, das damals gerade einen Bür-
gerkrieg hinter sich hatte. Das Album
dokumentierte die spannenden Ent-
wicklungen in Malis Musikszene.
Ähnliches gilt jetzt auch für «Egoli».
Gleichwohl klingt es viel runder als sein
Vorgänger.Es könnte so das Geld für
einFolgeprojekt einspielen, an dem in
London schon länger gearbeitet wird.
Ziel ist es, den Africa Express zu ver-
schiffen und mit mehrerenDutzend afri-
kanischen Musikerinnen und Musikern
denMississippi River von Süden nach
Norden hochzufahren – auf der Spur
afrikanischer Beats.

Africa Express: Egoli (Afric a Express).

«Egoli» ist
auch eine Hommage
an die pulsierende Stadt
Johannesburg,
in der viele
musikalische Stränge
zusammenlaufen.

«Das war
das erste Geld,
das ich mit Musik
verdient habe!»

Wolfgang Rihm
Organist undKomponist

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