Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

(nextflipdebug5) #1

Samstag, 21. September 2019 LITERATUR UNDKUNST47


Die Klampfe


hat Zukunft


Junge Gitarristen setzen wieder au f akustische


Instrume nte. Und übertragen die Tradition


John Faheys in eine polygl otte Gegenwart


Paavo Järvis Liebe zu Sibelius


Der neue Musikdirektor der Tonhalle legt eine wegweisende Gesamteinspielung v or


MARCUSSTÄBLER

DunkleWälder, tiefe Seen. Und die un-
endlicheWeite. Kaum einText über die
Musik vonJean Sibeliuskommt, zumin-
dest im deutschen Sprachraum, ohne
solche Bilder und Assoziationen aus,die
den bedeutendsten nordischen Sinfoni-
ker zu einemkomponierenden Natur-
burschen machen. Zu einem typischen
Nationalromantiker, der dieLandschaf-
tenFinnlands und die vermeintliche
Schwermut der nordischen Seele in
Töne gekleidet habe.
Aber ist dieseVorstellung tatsäch-
lich in denWerken selbst begründet?
Oder doch eher durch die zielgerich-
teteRezeptionkonstruiert? Eine span-
nendeFrage, die eine Gesamtaufnahme
der Sibelius-Sinfonien unter der Leitung
vonPaavo Järvi jetzt neu aufwirft.Sie
findet einen ganz eigenen Zugang zur
Musik und legt dieVermutung nahe,
dass da allzu zu oft und zu lange nicht
so genau in diePartituren geschaut, son-
dern ein liebgewonnenes Missverständ-
nis zementiert wurde.

Fernab aller Routine


Paavo Järvi, seit Saisonbeginn neuer
Musikdirektor desTonhalle-Orchesters
Zürich, hat die sieben Sinfonien von
Jean Sibelius zwischen denJahren 2012
und 20 16 mit dem Orchestre deParis
einstudiert, aufgeführt und aufgenom-
men – undkonnte dabei gerade nicht
an eine langeTr adition anknüpfen; seine
Konzertaufnahme ist vielmehr die erste
Sibelius-Gesamteinspielung eines fran-
zösischen Orchesters überhaupt. Aber
der vermeintliche Nachteil entpuppte
sich alsTr umpf, wieJärvi selbst im Bei-
heft der Produktion herausstellt.
Weil die Musiker hier Neuland be-
traten, war die Begegnung mit den Sin-
fonien für sie eine aufregende Ent-
deckungsreise. Sie folgen ihrem Diri-
genten denn auch hochkonzentriert und
fernaballerRoutine. In den frühen Sin-
fonien entfachenJärvi und sein Orches-
tereine glühende Intensität, wie man sie
nurvon wenigen Interpretenkennt.Das
ist etwa in der 2. Sinfonie beispielhaft zu
erleben, in derenFinale die Musik von
einer drängenden, bisweilen hitzigen
Unruhe vorangetrieben wird.
Schon imKopfsatz weichtJärvi von
gängigen Pfaden ab und offenbart eine
selten zu hörendeFrische,gerade im
Vergleich mit Sibelius-Aufnahmen der
Vergangenheit.Wirkt der Beginnin der
viel gerühmten Einspielung mitJohn
Barbirolli und dem Hallé Orchestra aus

den1960erJahren dunkel und schwer,
so bekommt diePassage beim Orchestre
deParis einenganz anderen Aggregat-
zustand: Sie wirkt flüssiger und leben-
diger, weilJärvi nicht blosseinrasche-
res Grundtempo anschlägt, sondern die-
sesTempo auch immer wieder ein wenig
anzieht, um im nächsten Moment nach-
zugeben. Die Musik steht so nie auf der
Stelle, sie atmet und pulsiert organisch
und scheint wie befreit von derLast der
Tr adition,die Sibeliusgern als Galions-
figur einer vermeintlich nordischen
Tr ägheit vereinnahmt hat.

Himmelsvision


Järvi findet eineneigenen,von derarti-
gen Klischees unbelasteten Zugang.
Er hat schon bei seinem professionel-
len Debüt als Dirigent imJahr 1985
eine Sinfonie von Sibelius aufgeführt
und seither eine besonders enge Be-
ziehung zu dessen Schaffen entwickelt.
Diese Nähe ist derKonzertaufnahme
mit dem Orchestre deParis in jedem
Werk anzumerken. Durch die Hingabe,
mit derJärvi den emotionalen Botschaf-
ten nachspürt, aber auch durch einen ge-
radezu liebevollen Blick für die Nuan-

cen. Hinreissend etwa, wie sanft der
Dirigent und sein Orchester die Melo-
die im langsamen Satz der1. Sinfonie
schwingen lassen.DieStreicher for-
men hier einen nicht bloss leisen, son-
dern geradezu zärtlichen Klang und fin-
den noch innerhalb von Piano und Pia-
nissimo vieleFarbschattierungen. Einer
von vielen Belegen für die Sensibilität
derAufnahme und für das exzellente
Niveau des Orchesters.
Auch in der 6. Sinfonie verlangtJärvi
einen weicheren, wenigerrauen Klang
als gewohnt. Sphärisch schweben einem
da die einleitenden Streicherklänge
ins Ohr, wie eine verklärte Himmels-
vision.Keine Spur von derDüsternis,
die man der Musik von Sibelius ja gern
alsDauerzustand unterstellt. EinWeich-
zeichner istJärvi gleichwohl nicht, die
Wucht der Musik tritt klar zutage. Er
meidet das Phlegma, das man mitunter
von anderen Interpreten hört und des-
halb demKomponisten selbst anlastet.
Auch in der 4. Sinfonie, dem vielleicht
avanciertestenWerk.

Kammermusikalische Sorgfalt


In dieserVierten schlägt Sibelius tat-
sächlich einen schwermütigenTon an
und gräbt sich oft in die dunklen Klang-
schichten des Orchesters hinein. Die
eigentümliche Polyphonie erwächst
aus einemKernintervall, demTr itonus,
den Sibelius gleich in den erstenTak-
ten einführt.Auch hier, in der düste-
renWelt derVierten, wahrtPaavo Järvi
einen transparenten Orchesterklang, er
modelliert die Strukturenmit kammer-
musikalischer Sorgfalt und verbindet
diese Disziplin im Klang und im Zusam-
menspiel mit der Suche nach demAus-
drucksgehalt der Musik.Dabei erkun-
det er die vergrübelten Momente und
die Seelenschwärze ebenso empathisch
wie den Überschwang oder das Schwel-
gen in anderenWerken.
Auchromantische Schwärmerei hat
sich Sibelius ja bisweilen gestattet, be-
sonders schön in derFünften. DerenFi-
nale entfaltet eine hymnische Pracht,
mit einem unvergesslichenThema, das
nachAuskunftvon Sibelius selbst vom
Anblick eines Schwarms aus sechzehn
Schwänen am Himmel inspiriert ist. Hier
scheint die Musik tatsächlich auf breiten
Flügelnabzuheben–und schwingtsich
zu einer Grösse auf, wie sie nur echten
Meisterwerken eigen ist.

Jean Sibelius: Die 7Sinfonien. Orchestr e de
Paris, Paavo Järvi (Leitung). RCA Red Seal CD
19 075924 512 (3 CD).

Im Raum entwickeln sichakustische Signale und Impulse zum komplexen Klangerlebnis. SIMONTANNER / NZZ

Die Musik atmet
und pulsiert organisch
und scheint wie befreit
von der Last
der Tradition.

CHRISTOPH WAGNER


DerTitel der Schallplattenserie hat es
in sich.Vielleichtkönnte man «Imagina-
tionalAnthem» mit «imaginäreNatio-
nalhymne» übersetzen. Seit 2005 sindin
dieserReihe neun Alben mit akustischer
Gitarrenmusik erschienen, die alle unter
dem Etikett«American Primitive Gui-
tar» firmieren – obwohl sie alles andere
als primitiv sind.Vielmehrkehren Gitar-
risten dieser Szene mit offenen Ohren
zu den Ursprüngen desFolk-Gitarren-
spiels zurück und erfinden es neu;die
akustische Gitarre verwandelt sich hier
in ein polyglottes Instrument.
DieReihe hatDutzende von Gitar-
risten und Gitarristinnen präsentiert,
von denen die meisten bisher nur In-
sidern bekannt waren.Kendra Amalie
lotet die Grenzen zwischen traditionel-
lenFolksongs und Ambient aus. Junge
Talente wie der AmerikanerWilliam
Tyler (den man vonLambchopkennt)
oder der Brite CJoynes überschrei-
ten stilistische Grenzen und beziehen
gelegentlich selbst aussereuropäische
Stilelemente ein, was dieAusdrucks-
möglichkeiten der akustischen Gitarre
zusätzlich erweitert. Meistens spielen sie
polyfon imFinger-Picking-Stil, was die
sechs- oder zwölfsaitige Gitarre wie ein
kleines Orchester klingen lässt.


Derweite Horizont


Die neunteAusgabe der «Imaginational
Anthem»-Serie wurde vom Gitarristen
RyleyWalker zusammengestellt, selbst
Bandleader und ein versierter Saiten-
zupfer.Walker, der sich in seiner eige-
nenBand gern mithochkarätigenJazz-
musikern umgibt, ist eine äusserst viel-
fältigeAnthologie gelungen, die von den
erstaunlichen Drones einesPeteFosco
über die verzerrten Soundgemälde von
Dave Miller bis zu den einfühlsamen
Melodien von Lucas Brodereicht.
Für einen solch breiten stilistischen
Horizont standJohnFahey (1939–2 001 ),
der als Urvater dieser Szene gilt. Er
verschmolz Blues, Ragtime, Bluegrass
und Gospel mit klassischer Musik so-
wie indischen und lateinamerikanischen
Einflüssen und formte daraus ein eigen-
ständiges Genre.Später schworFahey
der akustischen Spielweise ab und ver-
warf sein frühesWerk als «aufgebla-
sen». Er wechselte zur elektrischen
Gitarreundzeichnete nun mit verzerr-
ten Sounds, Rückkopplungen undFeld-
aufnahmen Klanggebilde, die ins Ato-
nale ausgriffen.
Das warFaheys zweite Geburt. Er
avancierte zum Guru für viele alterna-
tiveRockmusiker, weil erkompromiss-
loser musizierte als alle anderen.Vo n
PeteTownsend (TheWho) und Mit-
gliedern der Noise-Rock-Gruppe Sonic
Youth über Beck bis zuTheDecembe-


rists und Calexico – alle haben sich als
Bewunderer des amerikanischen Saiten-
magiers geoutet. ZwischenFaheys ers-
ter und zweiter Karrierelag eine düs-
terePeriode.Während einesJahrzehnts
war er völlig aus der Spur geraten. Er
trank viel zu viel, litt unter chronischen
Erschöpfungszuständen und rutschte
immer mehr in dieVerwahrlosung ab.
Zeitweise lebte er in seinemAuto, weil
kein Hotel ihn mehr aufnehmen wollte.
Faheys Karriere lag inTr ümmern.

Zähmung der Dämonen


Für den Gitarristen schien die Musik ein
Mittel zu sein, seine innerenDämonen
im Zaum zu halten.Das Saiteninstru-
ment erlaubte es ihm, sich jeweils einige
Stunden von seinen verworrenen Ge-
fühlszuständen zu befreien.Das Mate-
rial, das er benutzte, stammte aus dem
Bauch des alten, unheimlichenAme-
rika. Es waren Blues-Nummern, Gos-
pel-Hymnen und Hillbilly-Songs, wie
sie einst in den Bergen der Appalachen
und auf denBaumwollfeldern des Mis-
sissippi-Deltas zu hören waren. Mit die-
sen Musikern aus derVergangenheit
fühlte sichFahey geistig verbunden. Sie
hatten–wie er–das unerbittliche Le-
benkennengelernt. «American Primi-
tive Guitar» taufte er seine Interpreta-
tionen ihrer Musik.
In den Stilen des amerikanischen
Südens kannte sichFahey aus. Doch er
wolltekein Blues-Jünger oder Hillbilly-
Adept sein.Vielmehr nahm er die Old-
Time Music und gestaltete sie nach sei-
nenVorstellungen um.Erfügte Akkord-
folgen ein, änderte den Rhythmus, die
Struktur, führte die Stückekomposi-
torisch weiter,verdichtete und drama-
tisierte sie – bisdieMusikkeiner gän-
gigen Kategorie mehr zuzuordnen war.
1969 nahm er etwa eineVersion des
Weihnachtslieds «O’ Holy Night» auf.
Die erstaunliche Interpretation ist auf
der erstenAusgabe der «Imaginational
Anthem»-Serie von 2005 enthalten.
Fahey blieb mit seinen Experimen-
ten nichtallein. Ähnliche Ziele ver-
folgteRobbieBasho (1940–1986), der
einFaible für östliche Klänge, indische
Ragas und japanischeKoto-Melodien
besass. LeoKottke, Max Ochs, Sandy
Bull und Peter Lang waren weitere
Akustikgitarren-Spieler mit Phantasie,
die über das Althergebrachte hinaus-
wollten. Heute bezieht sich eine junge
Generation auf die Pioniere von damals.
ObKaki King, EliWinter, Gyan Riley
(Sohn des MinimalistenTerry Riley)
oder ShaneParish – sie alle knüpfen an
die Experimente vonFahey undBasho
an und spinnen ihre Ideen weiter. Die
Welt der Gitarrekenntkeine Grenze.

Various: Imaginational Anthem, Vol. 9 (Tomp-
kins Square).
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