Samstag, 21. September 2019 INTERNATIONAL
Strategisch günstige Lage könnte Pekings Interesse wecken
paz. PhnomPenh·Wenn die Einschät-
zungen amerikanischer Geheimdienste
stimmen, dann ist Sihanoukville auch ein
Feld im grossen geostrategischen Schach-
spielPekings. MitteJuli berichtete das
«Wall StreetJournal», dass PhnomPenh
mitPeking einenVertrag abgeschlossen
habe, laut dem chinesische Einheiten
künftig einen kambodschanischen Mili-
tärstützpunkt in der Nähe von Sihanouk-
ville nutzen dürfen. Sowohl die kambo-
dschanische als auchdie chinesische
Seite haben die Meldung dementiert.
Sihanoukville liegt strategisch güns-
tig am östlichenEingang zum Golfvon
Thailand. Der natürlicheTiefseehafen
ist die Heimbasis der kambodschani-
sche Marine. Die Amerikaner wurden
hellhörig, als Kambodscha vor einpaar
Monatendas AngebotWashingtons ab-
lehnte, für gewisseRenovationen des
Hafens aufzukommen. Gleichzeitig baut
eine chinesischeFirma unweit von Siha-
noukville ein riesigesResort mit einem
eigenen Flughafen.Auf Satellitenbildern
ist zu sehen, dass eine Piste imBau ist,
die gross genug für schwere militärische
Tr ansportflugzeuge wäre.
Experten rätseln nun, ob sich das
Regime des langjährigenRegierungs-
chefs Hun Sen in die Arme Chinas wirft.
InWashington bestehe die Befürchtung,
dass die Assoziation Südostasiatischer
Staaten(Asean) in zweiLager gespalten
werde,sagt BradleyJ. Murg.«Kambo-
dscha,Burma undLaos fallenindiesem
Denken ins chinesischeLager,derRest
ist mehr oder weniger proamerikanisch
oder neutral», sagt der Professor fürPoli-
tologie undAsienstudien an der Seattle
Pacific University. Für die USA wäreeine
chinesischeBasis einerote Linie.Wird
diese überschritten,so werde Kambo-
dscha mit Sanktionen bestraft.
OuVirak, der Präsident desThink-
TanksFutureForum in PhnomPenh,
glaubt nicht, dass es so weitkommt.
Anstelle einer formellenBasis sieht er
eine engere Zusammenarbeit der chi-
nesischen und der kambodschanischen
Marinen: «Ich denke, die gemeinsamen
Manöver werden einfach immer häufi-
ger und grösser – und irgendeinmal hat
man eine De-facto-Präsenz der chinesi-
schen Marine in Kambodscha.»
Sihanoukville passt als Hafenstadt
ins Anforderungsprofil der chinesischen
Belt-and-Road-Initiative.Das giganti-
sche Infrastrukturprojekt hat auch eine
geopolitischeKomponente. Doch das chi-
nesische Dementi, die Behauptung, kei-
nen Marinestützpunkt in Sihanoukville
anzustreben, überzeugt die Amerikaner
und ihreAlliierten auch aus einem ande-
renGrund nicht.Jahrelang hattePeking
versprochen, die künstlichen Inseln im
Südchinesischen Meer nicht zu militari-
sieren – das ist jedoch mittlerweile eine
unverrückbareTatsache.
Eine Stadt setzt alles aufs Glücksspiel
Im kambodschanischen Siha noukville haben sich Dutzende von chinesischen Casinos angesiedelt – doch die Bl ase könnte platzen
PATRICK ZOLL, SIHANOUKVILLE
«Jetzt hast dukein Geld mehr», sagt die
Chinesin. Eher nüchtern als entrüstet.
Der Mann im schwarzenT- Shirt neben
ihrsenkt denKopf.Vor knapp fünf Minu-
tenhatte er nochein dickesBündel Hun-
derternoten in der Hand, über 30 000
Dollar. Doch nach vier Spielrunden Dra-
gon-Tiger – eine lokaleVersionvonBac-
carat – ist alles weg.Als er seineletzten
10000 Dollar verliert, geht einRaunen
durch die Gruppe, die sich um den Spiel-
tischversammelt hat. Die Dealerin zieht
die Noten ein, lässt sie durch die Geld-
zählmaschinerattern und zahlt einem
anderen Spieler ein paar Hunderter aus.
Dann beginnt das nächste Spiel. Erneut
liegenTausende von Dollar auf dem grü-
nen Samt des Spieltisches.
Szenen wie diese im Kasino New
Macau des Hotels Xihu spielen sich in
Sihanoukville im Minutentakt ab, rund
um die Uhr. Innert knapp dreiJahren
hat sich die kambodschanische Hafen-
stadtin eine gigantische Spielhölle ver-
wandelt.Dutzende von Kasinos sind
aus dem Boden geschossen, legale wie
illegale. Verzockt werden zwar amerika-
nische Dollar – doch die Spieler sind fast
ausnahmslos Chinesen.
Einwohnerzahl verdoppelt
Das chinesische Geld liegt nicht nur auf
den Spieltischen. Die meisten Kasinos
sind auch von Chinesen gebaut worden.
Rund eine Milliarde Dollar haben chi-
nesische Unternehmen laut dem Gou-
verneur von Sihanoukville zwischen
2016 und 20 18 inder Provinz inves-
tiert. DreiViertel aller Hotels sind in
chinesischen Händen, neun von zehn
Restaurants.VieleFirmennamen und
Menukarten sind nur auf Chinesisch.
Ebenso das Kärtchen mit dem Ange-
bot für sexuelle Dienste, das Hotelgäs-
ten nachts unter derTür durchgescho-
ben wird. Mandarin ist überall zu hören.
Rund ein Drittel der Stadtbewohner sol-
len chinesische Bürger sein.
Das enormeWachstum führt dazu,
dass die Stadt aus allen Nähten platzt.
Überall stehenBaukräne, an manchen
Strassenist die Hälfte der Gebäude hin-
ter Gerüsten versteckt. Es hämmert,rat-
tert und baggert rund um die Uhr. Die
Strassen sind mit gigantischen Schlag-
löchern übersät.Der Belag bricht ein
unter denKolonnen von schwerenLast-
wagen undBaumaschinen, die sich im
Schritttempo durch die Stadt quälen. Die
Rolls-Royce- und Maybach-Limousinen
dagegen, die vor mehrerenKasinos für
zahlungskräftige Spieler bereitstehen,
wirken wie im falschenFilm.
Nicht nur die Spieler hoffen in Sina-
houkville auf ihr Glück. Die ganze Stadt
scheint im Spielrausch zu sein. Sie setzt
ihre ganze Zukunft auf eine Karte, aufs
Glücksspiel. So vieleAuswärtige wol-
len am Geldfluss teilhaben, dass sich
die Bevölkerung in kurzer Zeit auf rund
300000 Einwohner verdoppelt hat.
Eine Anlaufstelle für Neuankömm-
linge ist der Apsara Photo Shop. Der
Laden bietet nicht nurFotokopien und
Passfotos, denn wer eine Stelle sucht,
braucht ein CV. Zwei Angestellte tip-
pen umringt von Interessenten Lebens-
läufe für diejenigen, die selberkeinen
Computer bedienenkönnen.Dazu über-
schreiben sie einfach den vorherigen
Lebenslauf.Aus «Erfahrung:5 Jahre als
Fahrer» wird «3 Monate als Putzfrau»,
dazu Name,Adresse, Geburtsdatum und
Schulbildung (meist nur einigeJahre Pri-
marschule).Fertig ist der Lebenslauf der
Kandidatin oder des Kandidaten.
Die «3Monate als Putzfrau» stehen
im Lebenslauf von Ny. Die 38-Jährige
kam vor einemVierteljahr mit ihrem
Mann nach Sihanoukville. Nun wechseln
sie bereits ihre Stellen. Die je 250 Dol-
lar, die sie als Putzfrau und er als Sicher-
heitsmann in einem Hotel verdient haben,
sindihnen zu wenig. Denn die Lebenskos-
ten sind hoch, das kleine Zimmer, das sie
sich teilen,kostet monatlich 100 Dollar.
Je 30 0 Dollar wollen sie nun verdienen,
darum bewirbt sich Ny in einem Kasino.
Ihre18-jährigeTochter arbeite bereits da
und verdiene an einem der Spieltische
mehr als 450 Dollar, sagt Ny mit sicht-
lichem Stolz. DieMutter ist entschlos-
sen, sich ihren Anteil am Kasino-Boom
zu holen. Sie klebt ihrFoto auf die Be-
werbung, steckt diese in ein braunes Cou-
vert.Dann macht sie sich zum Gehen auf.
Mieten schiessen indie Höhe
250, 300, gar 450 Dollar sind viel Geld in
einemLand, in dem der Minimallohn für
Textilarbeiter bei185 Dollar im Monat
liegt. Im informellen Sektor verdienen
viele noch deutlich weniger.Kommt dazu,
dass die KasinosKost und Logis über-
nehmen.Darum saugen sie Arbeiter auf
wie ein Schwamm – andere Branchen sit-
zen auf demTr ockenen.Früher hätten im
ApsaraPhoto Shop zwanzigPersonen ge-
arbeitet, sagt eine Angestellte. Nun seien
sie noch zu sechst. Die anderen hätten
in den Kasinos angeheuert, weil es dort
mehr zu verdienen gebe. Mit den gleichen
Überlegungen kämpft die 23-jährigeYuri.
Sie wäre gern Coiffeuse und hat Erfah-
rung im Beruf:«Dochdamit ist einfach
kein Geld zu verdienen», sagt sie. Ener-
gisch klebt sie das Couvert mit ihrer Be-
werbung für einenJob im Kasino zu.
Viele Kambodschaner schwanken
zwischen den wirtschaftlichen Möglich-
keiten, die sich auf einmal bieten, und
dem Gefühl, dass ihreStadt nicht mehr
ihnen gehört. «Es ist, als ob mein Haus
von Gästen überrannt worden wäre»,
sagtLa. Mit einemKüchenbeil hackt sie
einem gerupften Huhn dieFüsse und
denKopf ab, schlitzt denBauch auf, so
dass die Innereien herausquellen.
Ihr Fleischgeschäft auf dem Stras-
senmarkt von Klang Leuam Stadtrand
von Sihanoukville läuft hervorragend –
bis zu 100 Dollarkönne sie verdienen,
sagt sie, und zwar proTag.Auch wenn
ihreKunden vorwiegend Kambodscha-
ner sind, hat sie ein paar Brocken Chi-
nesisch gelernt. Ihre vierjährigeToch-
ter will sie nun in den Chinesischunter-
richt schicken. So sollsie in der schönen
neuenWelt Sihanoukvilles beste Start-
bedingungen erhalten. Denn auch wenn
Ladie Chinesen nicht sympathisch sind
- dass dank ihnen dieWirtschaft im zu-
vor verschlafenen Sihanoukville voll in
Schwung ist, begrüsst sie sehr.
Doch es gibt klare Anzeichen, dass der
Markt überhitzt ist.Vor allem die Mie-
ten haben verrückte Dimensionen ange-
nommen.Für ihren kleinen, verlotterten
Stand im zentralen Markt bezahlt eine
chinesischeTofuverkäuferin dem kam-
bodschanischen Besitzer 1000 Dollar pro
Monat.An unzähligen Häusern und Ge-
schäften hängen «Zu vermieten»-Schil-
der. Für einenLaden amVictoria Hill
etwa, wo früher die westlichenBack-
packerabhingen, will dieresoluteBe-
sitzerin eine monatliche Mietevon 85 00
Dollar. Sie nennt den unglaublichen Be-
trag, ohne mit derWimper zu zucken. Fin-
det sie einen Chinesen – Kambodschaner
würden das nie bezahlen –, will sie sich
zurRuhe setzen und von der Miete leben.
Gleichzeitig ziehen chinesischeBau-
firmenWohnblock umWohnblock hoch.
Eine «äusserst attraktive» Investitions-
möglichkeit sei dies, sagt eine adrett ge-
kleidete chinesische Sales-Dame – und
versucht demJournalisten 12 000 chine-
sische Nachbarn schmackhaft zu machen.
Wegen der ganzenBauerei ist der Show-
room kaum zu finden, doch dort zeigt ein
wild leuchtendes Modell, wie die Über-
bauung CheerfulBayeinmal aussehen
soll. In der Mitte stehtein dreissigstöcki-
ges Kasino. Für 1800 00 Dollar kann man
ein Studio kaufen, das unterirdisch direk-
ten Zugangzum Kasino bietet.
Online-Kasinos verboten
Wenn bloss die Blase nicht schon frü-
her platzt. MitteAugust haben die kam-
bodschanischen Behörden gegen illegale
Online-Kasinos durchgegriffen.Diese
hatten sich häufigin denHotelzimmern
der lizenzierten Kasinos angesiedelt.
Auch hier sind vieleKunden Chinesen –
obwohl Glücksspiel in China selber ver-
boten ist. Die chinesischen Behörden
sollen auf Kambodscha Druck ausgeübt
haben, das Online-Glücksspiel zu unter-
binden.Bald schon sollen auch die Lizen-
zen der legalen Online-Kasinos auslau-
fen. Über150 Chinesen, die in illegalen
Casinos tätig waren, wurden verhaftet
und nach China überstellt.Laut lokalen
Medienberichten haben mehrere zehn-
tausend Chinesen Sihanoukville nach der
Verhaftungswelle verlassen.
Bereits sind dieAuswirkungen wei-
ter unten in der Nahrungskette zu spü-
ren. Sein Geschäft seikomplett zusam-
mengebrochen, sagt einTuktuk-Fahrer.
Der 51-jährige Piseth ist aus der Pro-
vinz hergezogen.Weil er sich die Mieten
nicht leisten kann,schläfter in seinem
offenen dreirädrigen Gefährt. 1 00 Dol-
lar pro Monat muss er für dasTuktuk
abstottern – und zwar noch für weitere
zweiJahre. «Wenn essoweitergeht, muss
ich mein Glück in PhnomPenh versu-
chen», sagt er.Vielleicht hat er in der
sechsFahrstunden entfernten Haupt-
stadt mehr Glück.
Eines steht fest:Wenn die Kasino-
blase von Sihanoukville platzt, werden
die spielverrückten Chinesen an den
Kasinotischen nicht die Einzigen sein,
dieVerluste einstreichen müssen.
NZZ Visuals/joe.
KAMBODSCHA
PhnomPhnomPenhPenh
Sihanoukville
LAOS
THAILAND
500 Kilometer
Motorradtaxiswarten vor einemder zahllosenKasinos von Sihanoukville aufKunden. BRENT LEWIN/ BLOOMBERG