10 NZZ-Verlagsbeilage 300 Jahre Liechtenstein Samstag, 21. September 2019
FLAVIAN CAJACOB
Gut 30 Kilometer lang ist die Haupt-
strasse, dieBalzers im Süden von Liech-
tenstein mit Mauren im Norden verbin-
det. Mit der nötigen Distinguiertheit
und dennochunübersehbar,markieren
Anwälte, Banken undTr euhänder ent-
lang derVerkehrsschlagader an Ste-
len undFassaden ihreAnwesenheit.
DerFinanzsektor ist für rund ein Drit-
tel desBruttoinlandprodukts (BIP) im
Fürstentum verantwortlich.Was die
Zahl derJobs anbelangt, liegenBanken
undFinanzdienstleister mit 17 Prozent
allerdings deutlich hinter dem Indus-
triesektor zurück, der seinerseits gut
37,5 Prozent der Arbeitsplätze stellt und
mehr als zweiFünftel zum BIP beisteu-
ert.Das Land hat sich in den letzten 80
Jahren vom agrarisch geprägten Klein-
staat zum innovativen Industriestandort
gewandelt. Dies dank alteingesessener
Betriebe, dank zugezogenerFirmen und
zahlreichen Neugründungen.
Weltmarktführer
4700 Unternehmen zählt Liechtensteins
Wirtschaftssektor insgesamt. Und der
bietet mit 38 600 Arbeitsplätzen sogar
leicht mehrJobs, als dasLand Einwoh-
ner zählt. 14000 davonentstammen dem
Sekundärsektor, dem wiederumrund
580 Betriebe angehören. Einerekord-
verdächtig hohe Quote, die Liechten-
stein zueiner der am stärksten industria-
lisiertenVolkswirtschaften überhaupt
mache, betontDaniel Risch,Regie-
rungschef-Stellvertreter und Minister
für Infrastruktur, Wirtschaft und Sport.
ZumVergleich: In der Schweiz arbeiten
21 Prozent derBeschäftigten in der In-
dustrie, in Österreich sind es 26 Prozent
und in Deutschland 28 Prozent. Mit 1 zu
8 ebenfalls bemerkenswert hoch fällt das
Verhältnis Unternehmen zu Bevölke-
rung aus, was ein neuerlicher Blick über
die Grenzen zu unterstreichen vermag.
In der Schweizliegt die entsprechende
Quote bei 1 zu14, in Deutschland bei
1 zu 24. «Liechtenstein ist einLand der
Unternehmen und der Unternehmer»,
deutet Risch diesen Umstand als Indiz
für das freundlicheWirtschaftsklima.
4700 Unternehmen also in einem
Land, das gerade mal so viele Einwoh-
ner zählt wie die Schweizer Städte Chur
oderFribourg und nur halb so viele wie
der angrenzendeWirtschaftsraum St.
Galler Rheintal. Hand aufs Herz:Wel-
che Namen vonFirmen liechtensteini-
scher Provenienzkommen uns spontan
und ohnezu googleninden Sinn? Am
ehesten wohlKonzerne wie Hilti,sei-
nes ZeichensWeltmarktführer im Be-
reich Abbau- und Befestigungstechnik.
Oder Hilcona, bekannt für Convenience
Food. OerlikonBalzers vielleichtauch,
Anbieterin von Oberflächentechnolo-
gien undBeschichtungsanlagen.Die
Namen noch weitererWeltmarktführer
sind hingegen wohl nurregelmässigen
Lesern derWirtschaftspresse vertraut,
so etwa thyssenkrupp Presta, Herstelle-
rin vonFahrzeug-Lenksystemen, Ivoclar
Vivadent, ein international erfolgreiches
Ein Land
derUnterne hmen
undUnterne hmer
Wer Liechtensteinhört, denktinersterLinie
anBankenund Finanzdienstleister. Was darüber
oftmals vergessen geht: Das Fürstentumgehört
zuden amstärksten industrialisiertenNationen
weltweit. ImSchatten internationalbekannter
Konzernewie Hilti und Hilcona haben sich
auchzahlreicheKMU ander Weltspitze etabliert.
«frooggies»: Ein Start-up,
das gross rauskommen kann
Inspiriert von täglich frischen Smoo-
thies im brasilianischen Dschungel er-
füllten sich drei junge Liechtensteiner
2014 denTr aum vom eigenen Unter-
nehmen und gründeten ihr Start-up
«frooggies». Die drei ehemaligenBan-
ker Sarah, Philippe undPatrick be-
schäftigen heute acht Mitarbeitende,
haben bereits über 400Tonnen fri-
scheFrüchte zuFruchtpulver verarbei-
tet und diese zu 20 00 Märkten in acht
Ländern verschifft.
DerFirmenname «frooggies» setzt
sich aus den Begriffen «fruits», «smoo-
thies», «veggies» zusammen.Das Pro-
dukt ist ein natürlichesFruchtpul-
ver, das Getränke, Joghurt und Müslis
«versüsst», ganz ohne künstliche Zu-
satzstoffe oder zugesetzten Zucker.
Nach vielen Monaten der Entwicklung
haben sich die GeschwisterPatrick und
Sarah sowie deren MannPhilippe 20 16
für dieTeilnahme bei derTV-Show
«Die Höhle der Löwen» auf«VOX»
beworben und zogen einen millionen-
schweren Investor anLand – dem be-
kannten deutschen UnternehmerJo-
chen Schweizer gefiel die fruchtige
Story der bodenständigen Liechten-
steinerauf Anhieb. Neu ist die ProSie-
benSat1-Gruppe bei «frooggies» inves-
tiert. MittelsTV-Spots soll das Start-up
nun weit über dieLandesgrenzen hin-
«frooggies»: Sarah Nissl-Elkuch, Philippe Nissl undPatrick Elkuch. FROOGGIES aus noch bekannter werden.
Dentalunternehmen,oder Hoval mit
seinen Heiz- undRaumklimalösungen.
«Hidden Champions»
Danach aber wird es richtig schwierig,
was aber nicht verwundern kann: Der
Grossteil der Liechtensteiner Indus-
triebetriebe wirkt mehr oder weniger
unterhalb desRadars der medialen und
öffentlichenWahrnehmung. Zur über-
schaubaren Zahl der bereits erwähn-
ten Grossunternehmen gesellt sich eine
Vielzahl von Klein- und Mittelbetrie-
ben, die international auf ihrem jewei-
ligen Gebiet ebenfalls führend sind. Zu
ihnengehört etwa die in dritter Genera-
tion geführte KaiserAG,die – vor über
10 0Jahren alsWebmaschinenfabrik ge-
gründet – heute mit150Angestellten in
Liechtenstein äusserst erfolgreich tech-
nologisch ausgereifte Kanalreiniger und
Schreitbagger produziert.
Oder Intamin: Die Entwicklerin und
Herstellerin von spektakulärenAchter-
bahnen undFreifalltürmen beschäftigt
am Sitz in Schaan rund 100Personen
und bestücktVergnügungsparks rund
um den Globus mit nervenkitzelnden
Installationen. Gefragt nach denVortei-
len des Standortes im Herzen Europas,
bemerktPatrick Spieldiener, CEO von
Intamin, kurz und knapp:«In Liechten-
stein, da sind dieWege äusserst kurz.»
Die geografische wie gesellschaftliche
Überschaubarkeit des Fürstentums
könne sich gleichzeitig aber auch als
Nachteil erweisen, «gerade, was das Ein-
zugsgebiet fürFachkräfte anbelangt», so
Spieldiener.
Werbenum Fachkräfte
Ein normaler Arbeitstag imFürstentum
wird denn auch morgens wie abends
flankiert vonausgeprägtenPendlerströ-
men. Über die Hälfte der Beschäftigten
kommt von ausserhalb, vorab aus den
Nachbarländern Schweiz und Öster-
reich. Insgesamt, so haben die Statis-
tiker errechnet, arbeiten in Liechten-
stein Menschen aus mehr als 100 ver-
schiedenen Nationen. Eine moderate
Steuerpraxis,tiefe Lohnnebenkosten,
eine im europäischenVergleichrelativ
hoheWochenarbeitszeit und eine aus-
geprägte Sozialpartnerschaft mit der
Gewerkschaft machen den Standort für
Unternehmen mit globalerAusrichtung
äusserst attraktiv.
Tr otzdem gibt es Herausforderungen.
Das betont auch Marcel Gstöhl,Verwal-
tungsratspräsident von Neutrik, einem
weltweit führenden Hersteller von
Steckverbindungen mit Sitz in Schaan.
Ebenso wie Intamin-ChefPatrick Spiel-
dienererwähnt aucher das äusserstbe-
schränkteReservoir an Arbeitskräften.
«Was die Attraktivität des Arbeitsorts
DerIndustriestandorterzielt mit demwarenproduzierenden Gewerbe etwa43Prozent der jährlichen Bruttowertschöpfung Liechtensteins. ROBERT AEBLI
Mit Innovation
in die Zukunft
fwc. ·Um den Unternehmen im eige-
nenLand besteVoraussetzungen für
Forschung und Entwicklung zu bieten,
arbeitet Liechtenstein eng mit seinen
Nachbarstaaten zusammen. So profitiert
das Fürstentum beispielsweise vom
Schweizerischen Nationalfonds wie auch
vom Österreichischen Wissenschafts-
fonds. Zudem ist dasLandTeil der hel-
vetischen Agentur für Innovationsförde-
rung Innosuisse. Und für die Export-
förderung dessen und bei Internationa-
lisierungsvorhaben allgemein werden
Liechtensteiner KMU durchSwitzerland
GlobalEnterprise betreut.
Die Regierung des Fürstentums
unterstützt kleine und mittlere Unter-
nehmen mit Innovations-, Export- und
Digitalschecks. Insgesamt investieren
die Liechtensteiner Unternehmen, die
der heimischen Industrie- und Handels-
kammer angeschlossen sind, imJahr
rund 550 MillionenFranken oder 9 Pro-
zent des Bruttoinlandprodukts (BIP)
inForschung und Entwicklung. Davon
werden zwei Drittel für eigeneund ein
Drittel für zugekaufte Leistungen aus-
gegeben.