Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Liebe, unter den Lügen, die sich wie unauslöschliche Flecken über dreißig
Jahre Ehe gelegt hatten. Sie würde sich nicht länger der Trauer ohne Leiche
überlassen, die ihr Leben fünfzehn Jahre zu einer Dauerbeerdigung gemacht
hatte. Die Ampel wurde grün, doch Marella fuhr nicht los. Sie fühlte sich wie
nach einer schier endlosen Nierenkolik, die sie zu zerbrechen drohte und
keinen anderen Gedanken zuließ, wenn nach Abgang eines winzigen Steins
durch den Harnkanal jeder Schmerz schlagartig und vollständig
verschwindet. Ungeachtet des Hupkonzerts der Autos hinter ihr stand sie an
der Ampel und ergab sich voll dem Glücksgefühl der Schmerzfreiheit. Erst
als die Ampel auf gelb sprang, legte sie den Gang ein und fuhr weiter. Sie
kam noch über die Kreuzung, während hinter ihr alle wieder bei Rot stehen
bleiben mussten. Die Autofahrer schimpften lautstark durch die Seitenfenster,
doch Marella, die gerade beschlossen hatte, ihr jahrelanges, alles
bestimmendes Selbstmitleid abzulegen, kümmerte sich nicht darum. Leise
lächelnd steuerte sie durch die Straßen der Stadt, über grüne Ampeln, freie
Kreuzungen, vorbei an Bussen, die sie trotz Vorfahrt passieren ließen. Die
Welt bewies ihr ihre Zustimmung, weil sie endlich ihre so schmerzlich
unterlegene Liebe der betrogenen Ehefrau in das Gegenteil verkehrt hatte.
Das nicht Hass ist, sondern eine fast ekstatische Gleichgültigkeit.


Als am Nachmittag der Chirurg kam, um ihm den ärztlichen Befund
mitzuteilen, stürzte sich die Angst, die Attilio bis dahin eifrig ignoriert hatte,
aus ihrem heimlichen Schlupfwinkel mit aller Wucht auf ihn. Er versuchte
das Zittern seiner Hand zu verbergen, als er den Zettel aus dem Labor
entgegennahm. Oben stand sein Name, darunter in fettgedruckten
Buchstaben: NEGATIV. Sein Herz setzte einen Schlag aus, sein Blut
elektrisierte sich mit Adrenalin, sein Atem löste sich, und endlich, nun wo es
vorbei war, wurde ihm die Gefahr bewusst, in der er geschwebt hatte. Doch
seine Stimme war distanziert und höflich, als er sagte: »Ich wusste es,
Dottore.«
Als der Arzt hinausging, kam eine Krankenschwester zur Tür herein.
»Das wurde für Sie abgegeben«, sagte sie und drückte ihm den Luftpostbrief
in die Hand.
Attilio nahm ihn mit derselben Hand, die noch den Biopsie-Bericht hielt.
Ohne ihn aufzumachen, starrte er ihn an, bis die Frau im Flur verschwand. Er
hatte ihn sofort erkannt.

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