Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Wie viele Jahre waren seit dem letzten vergangen? Er wusste es nicht
genau, erinnerte sich aber noch gut an den Inhalt: Ietmgeta informierte den
italienischen Vater über die Geburt seines Sohnes Shimeta – sein erster
Enkel. Er sah sofort, dass die Handschrift diesmal eine andere war.
Und tatsächlich war es nicht die von Ietmgeta, sondern die eines
Nachbarn, dem der Brief diktiert worden war. Abeba informierte ihn, dass ihr
beider Sohn gestorben war. Er hatte sich nie mehr vollständig von den
Entbehrungen im Gefängnis erholt und war nach seiner Befreiung vor etwa
zehn Jahren immer krank gewesen. Er war vierundfünfzig Jahre alt
geworden.
Attilio ließ den Brief sinken und legte ihn auf den Arztbericht. Die beiden
Blätter lagen nun übereinander wie zwei Totenhemden. Der schriftliche
Beweis, dass er einen weiteren Wettkampf gewonnen hatte – doch der
Besiegte war dieses Mal sein Sohn. Und diesen Wettkampf will niemand
gewinnen, auch nicht gegen einen halbafrikanischen Sohn, unehelich,
verlassen. Auch nicht Attilio Profeti.
Das Licht, das durch die Weiden im Klinikpark hereinfiel, färbte sich
golden. Die Sonne stand tief und blendete ihn. Er deckte seine Augen nicht
ab. Allmählich nahm der Sonnenuntergang die Feinheiten der Welt mit und
Attilio guckte weiter hinaus, während sich alles schwarz färbte.
Ohne Ankündigung flammte die Deckenlampe auf.
»Ich habe mit dem Arzt gesprochen«, sagte Anita und kam mit Oscar-
reifem Hüftschwung herein. »Er hatte wunderbare Neuigkeiten!«
Attilio hielt sich mit einer Hand die Augen zu, mit der anderen schob er
den Luftpostbrief schnell unter sein Kissen.
Seine Frau küsste ihn auf die Stirn. »Ich bin so erleichtert!«
Attilio suchte mit dem Blick die Dunkelheit vor dem Fenster, doch er sah
nur das Spiegelbild seines eigenen beleuchteten Gesichts. Er verbarg die
Trauer des heimlichen Vaters in der Brust und murmelte: »Ja, ich auch.«
berli17

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