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2010
Das eisige Wasser reicht ihm bis zu den Knien, bis zum Hals, strömt ihm in
Mund und Nase. Der Junge ertrinkt. In letzter Sekunde schlägt er die Augen
auf und sieht die Wände von Attilios Wohnung. Fühlt das feste Sofa unter
seinem Rücken. Die Angst zieht sich langsam zurück, wie die Brandung bei
Ebbe.
Auch heute hat er vom Meer geträumt, von grenzenlosen Wellen. Den
Wellen, die das kleine Boot umgaben, auf dem er nach Italien gekommen ist,
vollbesetzt mit Menschen, die vor Durst und Schlafmangel phantasierten.
Männer, Frauen, Kinder, unter ihnen ein allein reisender Sechsjähriger. Am
Strand von Misrata, eingetaucht in das rotierende Blaulicht der von den
Schleusern bestochenen libyschen Polizisten, hatte er beobachtet, wie der
Vater das Kind in das Boot stellte, als sei es ein Gepäckstück. Reglos hatte er
dann am Strand gestanden, während sie aufs Meer hinausschipperten, ein
immer kleiner werdender Punkt im Vergleich zu der furchteinflößenden
blauen Weite, auf die sie sich hinauswagten. Dieser Mann wusste: Wenn sie
das Meer zusammen überquert hätten, wären sie vielleicht wieder
zurückgeschickt worden. Doch das reiche, großzügige Europa würde
bestimmt ein Kind aufnehmen, vorausgesetzt es kam als Waise, als
»unbegleiteter Minderjähriger« – später hatte der junge Mann in den
Erstaufnahmeeinrichtungen den offiziellen Begriff gelernt, von dem sich der
Vater bei seiner Entscheidung hatte leiten lassen. Und verstanden, dass er
zum Wohle seines Sohnes nicht besser hätte entscheiden können, wie es die
Aufgabe aller Eltern ist.
Dann hatte er tagelang nur Wasser gesehen, nichts als Wasser zwischen
der libyschen und der italienischen Küste, aber nicht zum Trinken. Nicht
einmal in der Wüste hatte der Junge so viel Nichts um sich herum gespürt.
Nicht einmal in dem großen Raum war er so eng zwischen anderen Leibern
eingezwängt gewesen. Das bisschen Brot, das er dabei hatte, war zu einer
salzigen Pampe geworden. Er hatte es trotzdem gegessen. Schrecklicher als