Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Hunger und Durst aber war die Müdigkeit. Er kämpfte gegen sie an, damit
die Wellen ihn nicht aufs Meer hinauswarfen, wenn er einschlief. Hin und
wieder versank er in einen nassen Halbschlaf, unterbrochen von blitzartigen
Träumen, aus denen er aufschrak mit dem Gefühl von Angst und zugleich
Glück, noch am Leben zu sein. In einem dieser Träume auf dem Mittelmeer
sah er einen Baum. Überall in seinem Laub saßen wunderschöne Vögel, und
er konnte ihr Zwitschern hören. Jetzt, mit dem stabilen Festland unter den
Füßen, träumt er das Gegenteil, seine Nächte sind voll mit berghohen
Wassermassen, die sich sintflutartig über ihn ergießen. Voll mit schwarzen
Abgründen, auf denen ein kleines Boot schippert, dem Schicksal überlassen
wie ein »unbegleiteter Minderjähriger«, mit kaputtem Motor und modrigem,
zerfallendem Holz. Beinahe zwei Jahre sind seitdem vergangen, und immer
noch kann der Junge von nichts anderem träumen als von der Überfahrt. Der
Schiffbruch, aus dem die italienische Küstenwache sie gerade noch retten
konnte, wiederholt sich in seinem Geist fast jede Nacht.
Seine Großmutter Abeba hatte ihn gelehrt, die bedeutungsvollen Träume,
die man sich von den Alten und Priestern erklären ließ, von den
bedeutungslosen zu unterscheiden, inhaltsleer wie Weizenspreu. In diesen
wiederholten Albträumen, in denen er dem Tod im Wasser nur knapp
entrann, entdeckt der Junge keinen Sinn. Und doch drängen sie sich weiterhin
in seinen Schlaf. Warum? Vielleicht haben sie ja doch eine Bedeutung und
kommen so lange wieder, bis er sie erfasst hat. Wie gern er seine ayat danach
fragen würde.
Er sieht sich um. Attilios Arbeitszimmer mit dem ausgezogenen
Schlafsofa ist ein kleiner Raum, die Wände mit Fotos übersät, auf denen die
Farbe Blau dominiert: weiße Segel auf dem Wasser, springende Delfine,
lächelnde Frauen im Bikini, Arm in Arm mit Attilio am Steuer der Chance.
Die Matratze ist weich, fast zu weich für ihn. Bevor er sich am ersten Abend
hinlegte, fragte Attilio ihn, ob er sich ein Glas Wasser ans Bett stellen wolle.
Bezog ihm das Bett mit frischer Wäsche. Ungebügelt, doch diesen
Unterschied kannte der Junge nicht. ›So schlafen also die Europäer‹, denkt er
und streckt die Beine aus, ohne an die eines anderen zu stoßen. In den letzten
Jahren hat er nur allein geschlafen, wenn er sich wie ein herrenloser Hund auf
den Boden gelegt hat, in der Oase zum Beispiel, oder auch in versteckten
Winkeln an den Straßen quer durch Italien, auf denen er als Illegaler
unterwegs war. Manchmal schlief er auch in einem Bett, doch immer in

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