Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Schlafsälen mit dem Lärm und Gestank anderer müder Körper, die auf ihre
Papiere warten. Zum ersten Mal seit er das Haus seiner Mutter verlassen hat,
schläft er sowohl in einem richtigen Bett als auch allein.
Das war vor zwei Jahren. Drei vielleicht, irgendwann hat er den
Überblick verloren. Sie fehlt ihm, seine Mutter. Doch wer niemals mehr nach
Hause kann, leistet sich kein Heimweh. Und er ist jetzt nun mal ein
Geflüchteter, ein Verbannter, ein Asylsuchender, auch wenn er den
Ablehnungsbescheid bereits in der Tasche hat.
Er steht vom Bett auf, nimmt den Ausweis aus seiner Hosentasche, klappt
ihn auf. Er betrachtet das Passbild, den Namen darunter.
»Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti«, liest er sich leise vor.
Das ist er. Das muss er sein.


Man ist nicht ohne Grund fünfunddreißig Jahre mit jemandem befreundet,
und heute hat Lavinia Ilaria mal wieder eine Erklärung dafür geliefert. Ohne
auf ihre Einwände zu achten (»Du hast doch selbst genug zu tun, da brauchst
du nicht auch noch wegen mir den Vormittag verlieren ...«), fährt die
Freundin aus Schulzeiten sie zu dem abgeschleppten Panda. Mehr als eine
Freundlichkeit, eine Rettung – denn sie erspart ihr damit einen Kreuzweg.
Ein römischer Bürger, der sich nicht das exorbitant teure Taxi leisten
kann, muss auf dem Weg zur kommunalen Kfz-Verwahrstelle außerhalb der
Stadt drei verschiedene Busse nehmen mit jeweils unkalkulierbaren
Fahrplänen. Die geschätzte Fahrzeit hängt von verschiedenen Faktoren ab:
die allgemeine Verkehrslage der Stadt, eventuelle Streiks von Bus-, Bahn-
oder Zugpersonal, mögliche Schäden an dem gewählten Fortbewegungsmittel
aufgrund gekürzter Mittel für die Instandhaltung, direkte und indirekte
Auswirkungen der globalen Erderwärmung (Wolkenbrüche, Windhosen,
Schneestürme, Überschwemmungen).
Hat der letzte Bus den römischen Bürger dann fast einen Kilometer vom
Abschleppplatz entfernt abgesetzt, wandert er am unbefestigten Rand der
Landstraße entlang, während ungebremst Autos an ihm vorbeirauschen. Hier
gibt es keine Häuser, Bars oder Geschäfte, hier gibt es nur Industriebauten
und einen idyllischen Blick auf die weidenden Schafe in diesen letzten
Resten urzeitlicher römischer Campagna zwischen den Fabrikhallen. Hat der
Bürger den Parkplatz erreicht, wendet er sich dem Pförtnerhaus zu, in dem
ein Verkehrspolizist sitzt, der ohne Erwiderung seines Grußes bei voll

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