Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Verkehr verursacht durchgehend verstopfte Straßen bis in die Peripherie, wie
der radioaktive Fallout einer Atombombe. Schon seit dem frühen Morgen
knattern pausenlos die Polizeihubschrauber am Himmel.
Ilaria erzählt von dem Jungen, der plötzlich auf dem Treppenabsatz stand,
und der Entdeckung, noch einen Bruder zu haben, unbekannt und dazu noch
Halbafrikaner.
»Dann seid ihr gar nicht zu viert«, meint Lavinia, »sondern zu fünft.«
Das bedeutet es, von Kindesbeinen an befreundet zu sein: Man kennt den
Familienjargon und die Lebenskapitel des jeweils anderen in- und auswendig.
Lavinia erinnert sich noch gut an den berühmten Satz. Sie hatte an jenem
Morgen Ilaria zur Schultoilette begleitet, damit diese sich das verheulte
Gesicht wusch. Rausgeschickt hatte sie die strenge, aber einfühlsame
Philosophielehrerin, als sie sah, dass diese Sechzehnjährige gar nicht mehr
aufhören konnte zu schluchzen. Sie ahnte, dass es sich hier nicht nur um
pubertären Liebeskummer handelte. Und Lavinia war damals auch diejenige,
die Ilarias Zorn mitbekommen hatte, als sie versuchte, ihrer
auseinandergefallenen Welt wieder ein Gesicht zu geben. Dabei wandte sie
sich weniger an den Vater als an ihre Mutter, der sie vorwarf, jahrelang die
Augen verschlossen zu haben angesichts der immer grelleren Beweislage der
Lügen ihres Mannes. »Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten wir ewig so
weitergemacht!«, sagte sie voll Verachtung. »Vielleicht wollte sie ihn nicht
verlieren ...«, versuchte Lavinia sie zu verteidigen, doch Ilaria hatte ihr Urteil
bereits gefällt: »Wer die Wahrheit nicht wissen will, macht sich zum
Komplizen, und das widert mich an.«
»Ich wüsste ja zu gerne«, meint Lavinia jetzt am Steuer, »was ihr geredet
habt, bis dein Bruder dazukam. Ich meine ... wie macht man Smalltalk mit
einem, der aus Äthiopien kommt und behauptet, du seist seine Tante?«
»Er hat mich gefragt, warum ich nicht verheiratet bin.«
Lavinia wirft ihrer Freundin einen kurzen Blick zu.
»Teufel nochmal. Gleich in die Vollen. Und was hast du geantwortet?«
»Dass ich ein unangenehmer Mensch bin.«
»Du bist nicht unangenehm«, erwidert Lavinia, »du bist nur schlicht und
ergreifend die größte Nervensäge auf der Welt.«
»Sag ich ja. Ich ertrage keine Lügen, am wenigsten die, die ich selbst
aussprechen könnte. Und das ist das Unangenehmste, was es gibt. Kleine
Lügen machen eine Ehe doch überhaupt erst möglich. Deine zum Beispiel.«

Free download pdf