Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Außerdem war ich sicher, dass es dir früher oder später jemand sagen würde.
Es wussten ja alle.«
»Wer alle?«, fragt Ilaria verblüfft, während ihre Mutter sie vorbeilässt.
»Es war gut, dass du nicht am Telefon damit angefangen hast«, sagt
Marella, während sie die Wohnungstür schließt. »Das liegt zwar alles dreißig
Jahre zurück, aber man weiß ja nie.«
Nun blickt Ilaria nicht mehr durch. »Dreißig Jahre ...? Entschuldige,
wovon redest du?«
»Von den Schmiergeldern, die dein Vater genommen hat.«
»Schmiergelder?«
»Aber ja, Schmiergeld, Bestechungsgeld, Bakschisch, nenn es, wie du
willst.«
Ilaria ist verstummt. Marella bemerkt ihre Verblüffung nicht.
»Aber du darfst ihn nicht verurteilen. Damals machten das alle. Und wir
haben davon profitiert. Sogar ich: Bei der Scheidung hat er diese Wohnung
doch nur deshalb so bereitwillig herausgerückt, weil er die anderen noch
hatte, also soll es mir recht sein. Und allein mit dem Gehalt eines
Geschäftsführers hätte er euch Kindern niemals jedem eine Wohnung kaufen
können. Du wirst dich doch auch gefragt haben, wo das ganze Geld
herkommt.«
Ilaria muss sich am eleganten weißen Sofa abstützen.
»Und dein Vater war auch keineswegs der Raffgierigste von allen, es gab
viel Schlimmere. Wie gesagt, es war System. Bestechungsgelder wurden
gezahlt und genommen. Casati zahlte, um Bauaufträge zu bekommen, und
kassierte, wenn er welche vergab. Aber von wem hast du es denn eigentlich
erfahren?«
Ilaria starrt einen Moment auf den Fadenverlauf des Brauns im großen
Kelim in der Mitte des Wohnzimmers. Den bekommt sie später einmal, hat
Marella gesagt. Er gehört zu dem wenigen, was sie nach dem Tod der Eltern
erben wird: Anita hat das gesamte Eigentum Attilio Profetis auf sich
überschreiben lassen, Marella hat diese schöne Wohnung an andere verkauft,
um sich in den letzten Lebensjahren nicht einschränken zu müssen. Für
Ilarias kleine Wohnung ist der Teppich reichlich überdimensioniert, und sie
hat sich immer gefragt, was sie damit anfangen wird. Jetzt weiß sie es: Sie
wird ihn Lavinia schenken.
»Eigentlich wollte ich mit dir nicht darüber reden.«

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