Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Die ruckartige Kopfbewegung drückt Marellas Kinn auf ihren Hals wie
beim Rückstoß eines Schusses. »Nein?«
»Nein. Von all dem, was du da sagst, wusste ich nichts.«
Vorsichtig setzt sich Marella neben ihre Tochter auf das Sofa und mustert
ihr Gesicht. »Worüber denn dann?«
Ilaria atmet tief durch. Dann beginnt sie zu erzählen.
Von dem Jungen auf dem Treppenabsatz. Davon, wer er zu sein
behauptet. Von dem afrikanischen Sohn, den Attilio Profeti mit zwanzig
bekommen hat, den er verlassen und schließlich überlebt hat.
Als sie aufhört, erlaubt die Miene ihrer Mutter keinen Zweifel: Von dieser
Geschichte hat sie nie zuvor gehört. Und sie hat gerade begriffen, dass Attilio
Profetis Lügen und Geheimnisse nicht nur ihre dreißigjährige Ehe begleitet
haben, sondern schon bei ihrer ersten Begegnung mit am Tisch saßen.
Marella hebt die Augenbrauen. Schüttelt den Kopf. Schenkt ihrer Tochter
dasselbe Lächeln, mit dem sie morgens in den Spiegel schaut, um zu
vergessen, dass es nicht ihre Entscheidung war, das Alter alleine zu
verbringen. »Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, bin ich nicht wirklich
erstaunt. Das liegt sozusagen in seiner Person.« Ilaria nickt.
»Hat er nie von Äthiopien erzählt?«
»Ich wusste, dass er als junger Mann dort war. Aber erzählt hat er nie
etwas. Wir haben uns erst lange danach kennengelernt. Nur von einem
ehemaligen Kriegskameraden, der da geblieben ist. Carbone hieß er. Sie
haben sich jahrelang geschrieben, es kamen immer Briefe aus Addis Abeba.
Ich glaube, dein Vater hat ihm mal geholfen, ich weiß aber nicht genau wie.
Einmal besuchte er uns von Benevento aus, füllte mir die Küche mit
Käselaiben und Wein ...« Einen Moment sitzen sie schweigend
nebeneinander. »Tja. Dein Vater ist kein Engel, aber ein Langweiler ohne
Überraschungen war er immerhin auch nicht. Wie vor vielen Jahren, als ich
in der Nationalbibliothek einen Artikel fand, den er im Krieg geschrieben
hatte ...«
»Als er Partisan war?«
»Er war nicht Partisan, nie.«
»Was? Aber er wurde doch beinahe von Faschisten erschossen!«
»Das habe ich auch geglaubt«, sagt Marella. »Das gehörte zu den ersten
Sachen, die er mir erzählte, als wir uns kennenlernten.«
»Stimmt das denn nicht? O Gott ... was kommt denn noch alles?« Ilaria

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