Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Tippen noch mit fester Materie zu tun hatte: die Kraft des Fingers drückt die
Taste auf den harten Leib des Telefons und produziert dabei ein leises
Klicken im Mechanismus. Er tippt darauf herum, dann hält er Attilio das
kleine Display hin. Unter wirrem Lärm – Geschrei, verzerrtes Rauschen von
Wind und Wellen – taucht eine Wasseroberfläche auf. Trotz der schlechten
Auflösung erkennt Attilio den Umriss eines Delfins. Fröhlich springt er über
das sonnenbeschienene Wasser, schlägt eine Kapriole und taucht unter
wildem Spritzen wieder ein. Im Vordergrund sieht man den Rand eines
Bootes.
»Er hat uns gerettet«, sagt der Junge.
Attilio sieht ihn fragend an. »Wer er?«
»Der Delfin. Er hat uns geführt. Wir wussten nicht wohin, weil die
Instrumente ausgefallen waren.«
Der Bildausschnitt wandert weiter und bringt eine verschwommene
Masse kleiner dunkler Punkte ins Blickfeld, in denen Attilio erst nach einem
Moment die Köpfe von Menschen erkennt. Männer, Frauen, Kinder. Dicht
gedrängt auf der Brücke eines heruntergekommenen Bootes, kaum
ausreichend Platz zum Atmen.
Instinktiv stellt Attilio ein paar schnelle Berechnungen an. Dieses
Gleitboot wirkt nicht viel länger als seine Chance und vielleicht doppelt so
breit. Vollgepackt wie ein Frachter, der nach Volumen bezahlt wird, was ja
der Realität entspricht, schätzt er, dass sich auf dem Boot etwa hundert
Personen befinden.
»Wie viele Tage seid ihr so herumgetrieben?«
»Keine Ahnung. Es war schwer zu zählen.«
Attilio sieht den Jungen an, ihm fällt nichts dazu ein.


Als in den achtziger Jahren die Häuser auf dem Esquilin wegen der U-Bahn-
Bauarbeiten einstürzten und die Wohnungen billig verhökert wurden,
ergriffen neben Attilio Profeti auch andere schlaue Investoren die
Gelegenheit. Als dann in den folgenden zehn Jahren die vielen Einwanderer
kamen und irgendwo schlafen mussten, roch der eine oder andere das
Geschäft. Die Besitzer vermieteten die Wohnungen an Strohmänner, fast
immer Italiener, die sie an eine ständig wachsende Zahl Straßenhändler aus
Bangladesch untervermieteten, die in die Stadt strömten. Der Einzelne zahlte
nicht viel, doch konnte man die kleine Summe vervielfachen, indem man in

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