Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Seite des Saals, wo er mit einem Glas in der Hand bei einem der italienischen
Staatssekretäre stand, der gestikulierend auf ihn einredete. Die Augen des
Ministers waren auf Halbmast wie bei Trauerbeflaggung, sein Körper drahtig
wie der eines Marathonläufers. Er strahlte die Zurückhaltung desjenigen aus,
der seine Macht nicht zeigen muss, weil alle darum wissen.
»Ich werde mit ihm reden«, sagte Attilio und wollte aufstehen, doch der
Mann legte ihm mit jähem Nachdruck die Hand aufs Knie.
»Nein. Nicht jetzt. Zu viele Spione.« Dabei zeigte er mit aller Ironie, die
der Derg in die Keller verbannt hatte, auf seine Camouflage-Hose und sagte
lächelnd: »Zu viele Militärs.«


›Er ist nur zwei Jahre älter als ich und trotzdem ein alter Mann‹, dachte
Attilio. Carbone hatte die Tür des kleinen Häuschens neben der
Autowerkstatt geöffnet und lief ihm mit offenen Armen entgegen. Neben
dem muskulösen und in seinem Leinenanzug gepflegt wirkenden Attilio sah
er tatsächlich weniger wie ein früherer Kriegskamerad als wie ein armer
Onkel aus: die grauen Strähnen über die sonnengefleckte Halbglatze
gestrichen, der gebeugte Rücken des Arbeiters, die Schüchternheit des
Menschen, der nie im Mittelpunkt der Welt stand, sondern immer nur an
ihren Rändern.
»Du hast es noch!«, rief Attilio beim Eintreten und zeigte auf das breite
Sofa mit Löwenköpfen an den Füßen. Das massive Holzgestell nahm die
Hälfte des Wohnzimmers ein, unter einer rechteckig gemusterten
Kunstfaserdecke schaute an einer Stelle der alte Brokatstoff hervor.
»Aus diesem Haus hat es noch nie etwas nach draußen geschafft«, sagte
Carbone. »Nicht einmal das Sofa.«
Die Frauen der Familie – heller die Töchter und Enkel, dunkler seine
gealterte Frau – bemühten sich eifrig um den Gast, indem sie ihm Kissen
reichten, Schalen mit kolo und Keksen brachten, Orangenlimonade
servierten. Attilio betrachtete Carbones Frau. Sie hatte sich vor den kleinen
Ofen gehockt und wedelte mit einem Blatt den Rauch der Kaffeebohnen weg,
die sie röstete. Trotz ihrer grauen Haare und dem milchigen linken Auge war
sie immer noch schön.
»Du bist bei Maaza geblieben.«
»Sie ist es, die nicht gegangen ist«, erwiderte Carbone und zeigte mit dem
Kinn auf sie. In dem gesunden Auge der Frau blitzte es fröhlich auf, und aus

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