Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

ging er zu der Anrichte. Er nahm einen gelben Umschlag aus der Schublade.
Die Ränder waren ausgefranst und auf der Vorderseite stand: »Operation
Morbus Hansen«. Auf der Rückseite die aufgedruckte Adresse
»Autowerkstatt Carbone & Söhne – Addis Abeba«. Er zeigte Attilio den
Inhalt: ein halbes Dutzend alter Schwarz-Weiß-Fotos mit gezackten Rändern.
»Du hast sie noch!«, rief Attilio.
»Jetzt bekommst du sie zurück«, sagte Carbone und drückte ihm den
Umschlag in die Hand.
Attilio zog ein Bild heraus. Die zwei ehemaligen Schwarzhemden
betrachteten schweigend einen Berg von Leichen, mit Geschwüren übersät,
die Gliedmaßen unnatürlich verrenkt. Carbone schnaubte laut durch die Nase.
»Manchmal habe ich mich gefragt«, sagte er, »warum sie uns danach nicht
alle umgebracht haben.«
Attilio schob das Foto zurück.
»Weißt du, warum der Soldat auf mich gehört und das Kind nicht
erschossen hat? Weil ich weiß bin.« Er wies auf den Umschlag in Attilios
Hand. »Dass ich dabei auch Italiener bin, war ihm egal.«
Zum Abschied begleitete Carbone Attilio über das Werkstattgelände zum
Gittertor. Von der Überdachung erklang das ohrenbetäubende Gurren der
Tauben. Auf dem Hof standen ein mit Vogelmist übersäter Lieferwagen und
zwei uralte Autos, die wer weiß wie lange schon auf ihre Reparatur warteten.
»Ich bekomme keine Ersatzteile mehr«, sagte Carbone. »Für jede
Reparatur muss man auf ein Wunder hoffen. Und manchmal reicht selbst das
nicht.«
Am Tor drückte Attilio seine Hand. Carbone sah ihn von unten herauf an.
»Adressen nützen hier nichts, man muss den Weg kennen, wenn man
irgendwohin will. Wenn ich dich nach Lideta begleiten soll, sag mir
Bescheid.«
Attilio ging ohne zu antworten an Carbones altem Citroën vorbei durch
das Tor und über die steile Straße aus gestampftem Lehm hinauf zu dem
Lancia der Botschaft. Erst als der Fahrer ihm den Wagenschlag aufhielt,
drehte er sich um. »Was soll ich da?«


Das Hotel Ghion hatte schon bessere Zeiten gesehen. Der Kaiser hatte es sehr
geschätzt. Bis zum Ende seiner Regentschaft hatte Haile Selassie oft in dem
für ihn reservierten Chalet Ruhe gesucht. Durch eine geheime Pforte in der

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