Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Grundstücksmauer des Jubilee Palace war Haile Selassie der Last seines
dauerbewachten Lebens entflohen. Als der neue Südflügel des Hotels gebaut
wurde, war er, wann immer es die Staatsgeschäfte zuließen, hergekommen
und hatte die Bagger beobachtet, die Maurer, Schmiede und Elektriker. Die
Hände auf dem Rücken wie ein einfacher Rentner betrachtete er schweigend
die Baustelle, behelligte die Bauleiter und Ingenieure nur selten mit höflichen
Fragen. In den Jahrzehnten zwischen der Rückkehr des Negus und der
düsteren Herrschaft des Derg war das Ghion vor allen Dingen das Zentrum
des traumhaften Nachtlebens von Addis Abeba gewesen. Hier traf sich die
internationale Gemeinschaft mit der Crème de la Crème des amharischen
Adels zu ausgelassenen Tanzveranstaltungen in internationalen Zirkeln: die
Alliance Française, der Club Greco, der armenische Club, der das beste Essen
hatte, der neue Juventus-Zirkel, der seinen Namen der Überlegung verdankte,
dass »Italia« nur wenige Jahre nach der Vertreibung der faschistischen
Invasoren keine Empfehlung war. Der Nachtclub La Mascotte in Addis
Abeba war nach Kairo, Khartum, Dschibuti und Mogadischu die letzte
Station auf den langen Tourneen der herrlichen französischen, griechischen
oder spanischen Tänzerinnen, jede Woche andere. Und in den großen
Spielhallen des Casinos im Ghion, mit ihrer modernistisch runden, weiß und
blau abgesetzten Linienführung, setzten die kaiserlichen Honoratioren
ungeheure Summen gegen die Botschafter. Und auch ihre Gattinnen zitterten
vor Aufregung angesichts des jeweiligen Exzesses, mehr noch als bei den
geheimen Vereinigungen mit den äußerst sexfreudigen amharischen
Aristokraten.
Diese Zeiten waren seit mehr als zehn Jahren vorbei, als Attilio sich von
dem Fahrer der Botschaft am Straßenrand absetzen ließ und zu Fuß eine
kleine Allee einschlug, die von vereinzelten Laternen nur schwach beleuchtet
wurde. Mit gierigen Blicken beobachteten ihn die zwei Wachsoldaten,
hungrig nach Fetascha wie jeder hier, der Uniform trug. Im Innern war das
Hotel Ghion von demselben Grauton überzogen, mit dem der Derg Äthiopien
seine Farbenpracht geraubt hatte: Berge von Altpapier in den Ecken, leere
Stromkabel an fast allen Telefonanschlüssen der Rezeption, Kellner mit
braungefleckten Jacketts, die afrikanische Haut der Gäste und des Personals
im fahlen Neonlicht zur Farbe von Gewehrläufen verblasst. Trotz der späten
Stunde stand eine Putzfrau mit struppigem Besen reglos in der Halle, ein
Bein nach hinten geknickt und mit der Plastikschuhsohle an der Mauer

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