Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

und kam hinter dem Tresen hervor. Kein Winken, keine Aufforderung, ihm
zu folgen. Er ging einfach voraus.
Sie durchquerten die triste Empfangshalle, den Speisesaal mit den
einstmals sauberen Tischdecken, die noch in alter Pracht bis auf den Boden
herabfielen, mit Ledersofas so abgewetzt wie Kinderknie. Weiter ging es an
den Küchenräumen vorbei, in denen es nach dem säuerlichen Brotteig des
injera duftete, gemischt mit dem Geruch von kaltem Bratfett. Von dort traten
sie auf einen Hinterhof, wo das Licht einer nackten, von Faltern umflatterten
Glühbirne sich in den aufgestapelten leeren Ölkanistern spiegelte. Nach
wenigen Metern betraten sie das Gebäude erneut, durchquerten eine Art
Abstellkammer, dann einen von flackerndem Neon erhellten Korridor, um
schließlich ein paar lose Treppenstufen hinaufzugehen – Attilio immer dem
Mann folgend, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Sie befanden sich nun
im Bauch des Hotels, die typische Mischung aus Wasch- und Lagerräumen,
Personalumkleiden, die die Hotelgäste nie zu Gesicht bekamen. Hier führte
eine kleine Holztreppe zu den Zimmern in den oberen Stockwerken. Auf
halber Treppe jedoch bog der Mann ab und trat durch eine niedrige Tür, unter
der sich Attilio bücken musste, um nicht anzustoßen. Immer noch
schweigend folgte er seinem Führer, furchtlos und voller Vertrauen, dass
dieses Labyrinth zu dem Eingang führen würde, den er suchte.
Und er hatte sich nicht geirrt. Nach der letzten Treppe, er hätte die Etage
nicht mehr nennen können, stand er in einem engen Gang, an dessen Wänden
vergrößerte Drucke von Spielkarten hingen. Es waren vereinfachte,
didaktische Abbildungen. Sie sahen aus wie aus einem Grundschulbuch, in
dem neben alten Ägyptern und dem kleinen Einmaleins das Glücksspiel
gelehrt wurde. Schließlich stand der Mann vor der letzten Tür, die er öffnete.
Mit langem Arm blieb er auf der Schwelle stehen und ließ Attilio vorbei.
Der Saal war klein und kahl. Ein halbes Dutzend grüner Tische stand
darin, an jedem fünf Spieler. Der gelbe Schein der Neonröhren flutete wie
schmutziges Wasser durch das Zimmer, ließ die Gesichter violett erscheinen
und die Bewegungen abgehackt. Matt glänzte die laminierte Oberfläche der
Karten. Niemand sprach. Nur die Rufe der Spieler waren zu hören, die die
Hand des Gegners sehen wollten, das Flappen des Kartenmischens, das
zufriedene Seufzen der Gewinner, wenn sie ihre Chips einsammelten. Viele
hielten eine kubanische Zigarre im Mund, von der Rauchkringel aufstiegen,
bläuliche Hologramme aus einer Welt des Luxus und Wohlstands, weit weg

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