Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

übertragenen Sinn: Mit gebeugtem Rücken und eingezogenen Schultern sah
er aus, als würde er jeden Moment von der Müdigkeit überwältigt. Hin und
wieder blickte er enttäuscht ins eigene Blatt und passte, auch wenn er ein
Doppelpaar oder ein Full House auf der Hand hatte. Kurz, er tat alles, um
einen vorsichtigen, ängstlichen, unentschlossenen Spieler zu mimen. Um sich
schlechter zu machen als er war, opferte er sogar ein paar gute Blätter. Die
anderen drei Spieler profitierten von seiner Passivität und strichen mehr als
einmal etwas vom Einsatz ein. Der Hauptgewinn aber ging immer an Bayeh.
Wenn er nachdachte, streichelte er mit der Hand die Brosche mit Pflug und
Hammer, die an seinem Revers steckte. Dieselbe Geste, mit der er in
Äthiopiens vorsozialistischen Zeiten Schutz bei einem kleinen Kreuz gesucht
hatte. Attilio nutzte diese stillen Momente, um das anzuwenden, was ihn ein
halbes Jahrhundert zuvor eine hingebungsvolle Zimmervermieterin in
Bologna gelehrt hatte: Er markierte methodisch und ungeniert jedes Ass, das
ihm in die Hände kam, mit einem leichten Kratzer des Fingernagels.
Er erreichte das gesetzte Ziel schneller als erwartet – in wenigen Stunden.
Zu dem Vorteil durch die gezinkten Karten gesellten sich das Glück und der
Umstand, dass ihm Bayehs Angewohnheit, seine Brosche zu berühren, viel
über sein Spiel preisgab. Bis sich in der Tischmitte ein Haufen Jetons
angesammelt hatte, der so viel wert war wie zehn Jahresgehälter jedes
einzelnen der drei Beamten und das Einkommen eines Bauern aus dem Wollo
in hundert Jahren. Dies war der Moment, in dem Berhanu Bayeh, der
fünftmächtigste Mann des Derg sowie Kontaktmann der internationalen
Entwicklungshilfe, mit der genussvollen Geste des Menschen, der seinen hart
erarbeiteten Sieg auskostet, nach einem All In sein Ass-Poker auf den Tisch
legte. Den Attilio allerdings schon vorher in seiner Hand erkannt hatte, an
den feinen Linien, die das Neonlicht nur für ihn sichtbar auf die Rückseite
der Spielkarten zeichnete.
»Du hast schon immer viel Schwein gehabt, Profeti«, hatte Carbone
einmal zu ihm gesagt, genau hier in Addis Abeba. Das war fast fünfzig Jahre
her, hatte sich aber immer wieder bewahrheitet. Wie jetzt mit den fünf Pik,
die Attilio in perfekter Reihenfolge von der neun bis zum König auf den
Tisch blätterte – Straight Flush.
Der Arbeitsminister der Demokratischen Volksrepublik Äthiopien
erstarrte wie ein im Regal vergessener Gegenstand, stierte stumm die fünf
Karten auf dem Tisch an. Dann hob er langsam den Blick und heftete ihn

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