Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

durch seine Langzeitstudentenbrille auf Attilio. Zum ersten Mal schien er ihn
wahrzunehmen, seit er in dem Türrahmen gelehnt hatte. Attilio zuckte kurz
mit den Schultern, als Entschuldigung oder Galanterie in seine Richtung. Mit
ausgebreiteten Armen zog er sich dann den ganzen Berg Jetons an die Brust.
Im Saal herrschte plötzlich angespannte Stille. Niemand wollte Zeuge
dieser eklatanten Niederlage eines so mächtigen Mannes sein, doch
ignorieren ließ sie sich auch nicht. Die Spieler streiften Attilio, die Jetons und
noch vorsichtiger Bayeh mit flüchtigen Blicken. Attilio war wahrscheinlich
der Einzige im Saal, dessen Gedanken vom Hier und Jetzt abwichen. Denn
ihm war eine andere Szene dieses aufgeregten und wirren Tages eingefallen,
der sich hier seinem triumphalen Ende zuneigte.
Sie waren gerade im zweiten Flüchtlingscamp aus dem Hubschrauber
gestiegen. Ein Mann um die dreißig war zu den Italienern getreten, in
zerschlissenen, aber sauberen Kleidern. »School teacher«, hatte er sich
vorgestellt. Dann hatte er auf Amharisch weitergesprochen, den Zeigefinger
erhoben wie einen Korrekturstift oder eine Waffe oder beides. Peinlich
berührt hatte der Dolmetscher übersetzt, was der Mann mit der klangvollen
Stimme des geübten Redners vor Schülern aller Altersgruppen unter einem
Wellblechdach sagte: »He say white people come here to save black people.
He say you white people like to save black people. He say you like very much
to save black people.« Attilio konnte nicht heraushören, vielleicht ebenso
wenig wie der Dolmetscher, ob in der Stimme des Mannes Bewunderung,
Ironie oder Vorwurf lag.
Während er jetzt den Gewinn in zwei Hälften teilte und dem entgeisterten
Bayeh mit leiser Stimme erklärte, dass er ihm die rechte Hälfte im Tausch
gegen die sofortige Freilassung eines bestimmten Häftlings aus den Kerkern
des Derg überlassen würde und die linke gegen die Ausstellung gültiger
Pässe für Italien für eine bestimmte Familie, dachte Attilio, dass dieser school
teacher Recht hatte: Es machte ihm großes Vergnügen, seinen schwarzen
Sohn zu retten.


»Wie kann ich das je wieder gutmachen?«, hatte Carbone ihn ein paar Tage
später gefragt, als er ungläubig auf die sieben Reisepässe starrte.
»Fahr mich nach Lideta«, hatte Attilio erwidert.
Und da stand es, Abebas Haus: niedrig, Schindeln auf dem Dach, eine
Zierbanane und drei scharrende Hühner vor der Tür. Carbone parkte seinen

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