Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

alten Citroën auf der anderen Straßenseite und machte den Motor aus. Die
Kinder des kebele wären zu gerne neugierig näher gekommen, doch sie
hatten die Schule des Derg durchgemacht. Also hielten sie Abstand von dem
eigenartigen Auto.
Sie mussten nicht lange warten. Obwohl er ihn noch nie zuvor gesehen
hatte, erkannte Attilio ihn sofort. An seiner grauen Haut, der viel zu weiten
Hose. Seine Schritte waren unsicher.
Er ist fast so groß wie ich.
Seinem Sohn fehlten nur wenige Meter bis zu seinem Zuhause. Er wurde
kurz langsamer und drehte sich zu dem Citroën um, wo sein Blick einen
Moment lang dem des Vaters begegnete. Der sich am liebsten unter dem
Armaturenbrett verkrochen hätte oder ihm entgegengelaufen wäre, um ihn in
die Arme zu schließen. Doch er tat keines von beidem, denn nach kurzem
Zögern ging sein Sohn weiter und rief nun mit lauter Stimme seine Mutter.
»Emaye! Emaye!«
Als Erste kam mit ausgebreiteten Armen und vor Freude und
Überraschung schreiend eine Frau aus der Hütte, die mindestens zehn Jahre
jünger war als er.
»Seine Frau?«, murmelte Attilio. Carbone nickte.
Dann erschien eine weitere junge Frau, die offensichtlich schwanger war,
gefolgt von einem Mann.
»Seine Schwester Saba«, erklärte Carbone. Attilio drehte sich ruckartig
zu ihm um. Schwester? Die Erklärung musste jedoch warten, denn nun stand
eine alte Frau in der Tür. Trotz der weißen Haare erkannte Attilio sie an der
runden Stirn. Als hätte er sie heute Morgen noch beim Aufwachen in seiner
Handfläche geborgen. Die alte Frau schrie nicht, sprach nicht. Sie ergriff
lediglich die Hand des Sohnes und zog ihn an sich, berührte seine rechte
Schulter und umfing ihn mit dem linken Arm wie ein Kind. Er lehnte seinen
Kopf an den seiner Mutter. So blieben sie stehen wie zwei Fohlen, mit
verschlungenen Hälsen, halb geschlossenen Augen, ohne zu sprechen. Attilio
wandte den Blick ab. Ein Nebel wallte in seiner Brust.
Nun war auch die übrige Familie herausgekommen und begrüßte den
Sohn, den er befreit hatte. Die Frauen weinten, aus dem ganzen kebele
rannten Nachbarn herbei. Niemand beachtete den Wagen.
»Wir können fahren«, sagte Attilio zu Carbone.
»Bist du dir sicher? Möchtest du nicht ...«

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