Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Brüchen schütze, die oft auch nicht mit der auf Seiten des Ehemanns noch
lebhaften Zuneigung korrespondierten. Marella, die mit überschlagenen
Beinen an dem schmiedeeisernen Tischchen in einem Café im Zentrum saß
und mit den Fingern graziös an ihrer Perlenkette spielte, die Attilio ihr zur
Silberhochzeit geschenkt hatte, entglitt das zivilisierte Lächeln.
Eine heftige Ohrfeige klatschte auf Attilios Wange.
Während Marella sich schluchzend über die Via della Croce entfernte,
strich sich Attilio nachdenklich über das gerötete Gesicht, ratlos, was er denn
so Schlimmes gesagt hatte.
Doch auch Anita konnte seine ökumenische Meinung zu ehelichen
Beziehungen nicht teilen. Der italienische Gesetzgeber zwang sie, nach
Attilios Trennung noch über fünf Jahre in devotem Respekt zu warten, da die
Kirche den Bruch des heiligen Sakraments ablehnte. Diese fünf Jahre
summierten sich zu den ungezählten heimlichen Jahren, die sie erst allein und
dann mit Kind erduldet hatte.
»Am Tag nach deiner Scheidung musst du mich heiraten«, hatte sie
gefordert.
Und so geschah es, wenn auch mit etwas mehr als
vierundzwanzigstündiger Verspätung wegen des Aufgebots. Es war mehr ein
bürokratischer Akt denn eine Zeremonie, mit zwei Trauzeugen vom Amt und
nur einem Gast, nämlich Anitas unverheirateter Mutter, die selbst einige
Jahre jünger war als der Bräutigam. Attilio junior, damals gerade zehn
geworden, wurde mit der Kinderfrau auf einen Spielplatz geschickt. Er kam
erst hinzu, als alles vorbei war, in einem sardischen Restaurant, wo sie mit
der neuen Schwiegermutter zu Mittag aßen. Der Vater erklärte ihm, sie
feierten seine Beförderung, und der kleine Attilio hatte keinen Grund, an der
Wahrheit zu zweifeln. Soweit er wusste, hatten seine Eltern lange vor seiner
Geburt geheiratet, wie es bei allen Kindern der Fall war. Seine bleibende
Erinnerung an diesen Tag waren die Seadas, die ihm so gut schmeckten, dass
er noch eine zweite Portion bestellen durfte und anschließend
Bauchschmerzen bekam.
Erst sehr viel später sollte er feststellen, dass dies der Tag gewesen war,
an dem seine Mutter und sein Vater Frau und Mann wurden. Das war zu einer
Zeit, als der Altersunterschied von zwölf Jahren zwischen Ilaria und ihm
keine Rolle mehr spielte, weil sie erwachsen waren, und sie einen ganzen Tag

Free download pdf