Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

damit verbrachten, ihrer beider Versionen der Realität abzugleichen, die ihr
Vater für sie entworfen hatte.
Mit der Zeit würde der Sarkasmus es Marella ermöglichen, die
Demütigung beim Gedanken an dieses letzte Treffen mit dem Ex-Mann
abzuschwächen, an seinen »Haremsmonolog«. Ihre spontane Reaktion jedoch
war weniger abgeklärt. Durch eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter teilte
sie ihrem Ex mit, dass er sich niemals wieder in ihrem Leben blicken lassen
sollte, außer vor Gericht. Ihr Wunsch, besser gesagt Befehl, wurde von
Attilio Profeti ernst genommen, der von da an sorgfältig jede Begegnung mit
seiner Ex-Frau vermied. Es fiel ihm nicht schwer. Sie so am Boden zerstört
zu sehen bereitete ihm ein Unwohlsein, das es nie bis zum Schuldgefühl
schaffte – eine Empfindung, gegen die er per Veranlagung immun war wie
andere gegen Malaria –, das ihn aber dennoch irgendwie störte. Vor allem für
Emilio wurde Marellas Wille Gesetz: An seiner Hochzeit lud er die Mutter
zur Zeremonie ins Standesamt ein, den Vater zum Hochzeitsessen. Für Ilaria
war es anders. Wenn ihre Eltern die Liebe zu ihren Kindern nicht teilen
konnten wie egoistische Kleinkinder, die um ein Spielzeug streiten, war das
deren Problem, nicht ihres. Sie lud beide zu ihrem Examen ein – übrigens die
erste Akademikerin in der Familie, denn Federico war nach dem Abitur nach
Kopenhagen, besser gesagt in die Freistadt Christiania gegangen, und Emilio
hatte an der Akademie der dramatischen Künste studiert. Sie informierte sie,
an welchem Tag, um welche Uhrzeit und in welcher Aula die Abschlussfeier
stattfinden würde, und fügte hinzu: »Es komme, wer möchte, wer nicht
möchte, komme nicht, wer möchte, aber andere nicht sehen will, möge die
Augen schließen, alles ist erlaubt, außer mir auf den Keks zu gehen.« Attilio
Profeti aber entschied sich für etwas anderes, womit Ilaria nicht gerechnet
hatte.
Er erklärte, dass er aus Respekt vor den Gefühlen seiner früheren Frau auf
die Freude verzichten würde, dem Endexamen seiner Tochter beizuwohnen.
Ilaria akzeptierte das wie versprochen und behielt ihre Traurigkeit darüber für
sich. Als ihr die Bestnote summa cum laude verkündet wurde, drehte sie sich
stolz zu Marella um, die in der ersten Reihe saß. Dabei fiel ihr eine sehr
hochgewachsene Blondine auf, die ganz hinten in der Aula an der Wand
lehnte. Ihr Gesicht war zum Großteil hinter der riesigen Sonnenbrille
verborgen, ihre Frisur wirkte wie aus Plastik gegossen und ihr Kleid lag eng
um die taillenlose Figur. Trotzdem kam sie ihr merkwürdig vertraut vor.

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