Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Ilaria starrte sie perplex an: die schlaksige Haltung, diese ganz bestimmte
Fußstellung ... Die komische Gestalt legte sich einen Finger an den Mund
und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sich wieder dem Professor
zuzuwenden, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Da erst fiel bei Ilaria der
Groschen. Mühsam unterdrückte sie ein Lachen und drehte sich wieder zu
den Doktorvätern um. Während sie ihren Titel im Fach Moderne
Literaturwissenschaften verliehen bekam, lächelte Attilio Profeti unter der
blonden Perücke, voll Stolz auf sein kleines Mädchen.
Attilio Profeti machte sich keine Sorgen um die Zukunft seiner
intelligenten Tochter. Anders als um die der anderen. Als Federico
ausgezogen war, um durch die Welt zu tändeln, hatte er eine untergründige
Erleichterung verspürt. Da sie beide davon überzeugt waren, der Mittelpunkt
des Universums zu sein, hatte zwischen Vater und Sohn stets eine gewisse
Antipathie geherrscht, manchmal unbeabsichtigt und plump, häufiger
feindselig. Mit Emilio lagen die Dinge noch schwieriger. Attilio hatte nie
ausreichend Geduld aufbringen können für seine verletzte Reaktion auf
Kritik, verbunden mit der fast weichen Abhängigkeit in seinem Blick. Er
empfand keine Zärtlichkeit für dieses zerbrechliche Kind mit den feinen
Gesichtszügen, wegen derer er als Kind oft für ein Mädchen gehalten worden
war, sondern fand es trotzig und nervtötend. Erst als Erwachsener hatte
Emilio aufgehört, in den Augen des Vaters nach Bestätigung zu suchen, und
fand sie, wenn auch auf Umwegen und kurzlebiger, in denen des Publikums.
Mit diesem stillen und unabhängigen Mädchen war es einfach gewesen.
Attilio hatte immer gern Zeit mit Ilaria verbracht, eben weil sie ihn nicht zu
brauchen schien. Und die brutale Art, mit der sie rundheraus sagte, was sie
dachte, störte ihn nicht, im Gegenteil interpretierte er sie als Charakterstärke.
Außerdem kam sie mit dieser Direktheit viel häufiger zu Marella als zu ihm.
Wenige Tage nach dem Abschlussexamen besuchte er sie in ihrer kleinen
Wohnung in San Lorenzo, die sie sich mit Lavinia teilte.
»Wie bist du denn darauf gekommen, dich als Frau zu verkleiden?«, hatte
Ilaria lachend gefragt.
Attilio machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich wollte nicht, dass
deine Mutter leidet.«
Da erst begriff Ilaria. Ihr Vater hatte sich nicht aus Spaß als Frau
verkleidet oder um andere zu provozieren. Er wollte auch nicht irgendwie
auffallen oder Grenzen überschreiten. Denn dafür musste man die Verbote

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