Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

kennen, und Attilio Profeti hatte nie jemand gesagt, was man tun durfte und
was nicht. Er hatte rein pragmatisch gehandelt. Es gab ein Problem, das eine
Lösung erforderte. Wie nimmt man ungesehen am Examen seiner Tochter
teil? Klar. Mit einer blonden Perücke auf dem Kopf.
Doch er war nicht zu ihr gekommen, um über Perücken zu sprechen,
sondern über Arbeit. Sie habe ja mit Bestnote die Uni beendet, meinte der
Vater zu Ilaria, und er wisse, wie er sie nun unterbringen könne. Freunde
hätten ihm gesagt, dass bei der Stadtverwaltung Rom der Posten eines
mittleren Geschäftsführers frei geworden sei. Das Einstiegsgehalt sei nicht
überwältigend, aber für eine Berufsanfängerin mehr als anständig. Ilaria solle
es als Sprungbrett für eine Spitzenkarriere in der öffentlichen Verwaltung
ansehen, unangreifbar und geschützt. Theoretisch hätte der Posten öffentlich
ausgeschrieben werden müssen und, wenn man es ganz genau nahm, auch für
jemanden mit einem etwas technischeren Abschluss – Wirtschaft oder Jura
etwa. Aber das war Nebensache. Die Freunde hätten ihm versichert, dass es
wohlerprobte Methoden gab, um die Ausschreibung zu umgehen und
gleichzeitig das gesamte Verfahren rechtmäßig erscheinen zu lassen. Ganz
wichtig sei es, fuhr Attilio eindringlich fort, dass Ilaria, die ja gern mit ihrem
Gewissen im Reinen war, begreife, dass es sich hier nicht um
Vetternwirtschaft und Klüngelei handle. Sondern schlicht um den einfachsten
Weg, zu garantieren, dass ein so verantwortungsvoller Posten wie dieser mit
einer seriösen und klugen Person besetzt würde, wie sie es war. Sie
einzustellen könne also nur im Interesse der Bürger dieser Stadt liegen.
Bei den Worten ihres Vaters spürte Ilaria, wie ihr nach und nach der
Atem stockte. Als Attilio schwieg, blieb sie stumm, doch nicht wie er dachte,
weil sie überlegte, sondern weil sie schlicht keine Luft bekam.
›Das‹, dachte Ilaria bei sich, ›ist amoralischer Familismus.‹ Und die
Familie war ihre. Ihr Vater in Sachen Ethik ein Analphabet. Inkorrektes
Handeln, Ausnutzung von Privilegien und Begünstigungen als
selbstverständliche Motoren der Gesellschaft. Quasi naturgegeben. Ilaria
hatte einen bitteren Geschmack im Mund.
An einem anderen Tag hätte sie dem Vater mit Verachtung geantwortet.
Hätte ihm bis ins kleinste Detail dargelegt, auf welche Werte sie ihr eigenes
Leben gründen wollte. Hätte ihm erzählt, wie sie während der letzten vier
Studienjahre als Hortbetreuerin durch die Randbezirke innerhalb und
außerhalb des großen Autobahnrings gekurvt sei. Von den Jugendlichen,

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