Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

denen sie begegnet war und deren einzige außerschulische Aktivität das
Kiffen oder Schlimmeres war, vor den Wohnblocks von Torre Angela fernab
von Kinos, Bibliotheken oder Sportanlagen, und im Gegensatz dazu die
Anwaltskinder im Reichenviertel Fleming mit Papas Kanzlei, die schon Jahre
vor ihrem Examen auf sie wartete. Dass sie entschlossen war, ihr Leben der
staatlichen Schulbildung zu widmen, weil nur sie das Potenzial hatte,
zumindest für ein klein wenig Chancengleichheit zwischen den Kindern zu
sorgen. Und dass die Denkweise, die sie in den kommenden Jahren ihren
Schülern beibringen wollte, das komplette Gegenteil von seinem Vorschlag
war. Den sie im Übrigen verabscheute.
So hätte Ilaria ihrem Vater zu einem anderen Zeitpunkt geantwortet. Aber
nun hatte er sich wenige Tage zuvor mit einer blonden Perücke als Frau
verkleidet, und das hatte er für sie getan. Und hatte ihr mit seiner eigenartigen
und ungenierten Vaterliebe eine große Freude bereitet. Also sagte sie nur:
»Das kommt nicht in Frage.«
Als Attilio Profeti ging und mit einem Bein bereits im Hausflur stand,
fragte er: »Brauchst du Geld, mein Schatz?«
Ilaria schüttelte den Kopf, aber er kramte schon in seiner Hosentasche. Er
zog zwei Hunderttausend-Lire-Scheine hervor – ungefähr so viel, wie sie
monatlich mit ihren Nachhilfestunden verdiente. Wie er es mit dem Portier
im Hotel Ghion vor ein paar Jahren getan hatte, drückte er ihr das Geld in die
Handfläche und schloss sanft ihre Finger darum.
Wenige Wochen später steckte Attilio Profeti wieder seine Hand in die
Tasche. Und zog vier kleine Apartments hervor in einem
heruntergekommenen Wohnhaus zwischen Piazza Vittorio und dem Bahnhof
Termini, für jedes seiner Kinder eins – zumindest für jedes italienische.


Kurz nach ihrem Einzug in die neue Wohnung auf dem Esquilin traf Ilaria
eines Freitagabends Piero Casati auf einem Fest von Freunden von Freunden.
Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen. Piero hatte zuerst in Mailand und
dann im Ausland studiert. Sie frequentierten unterschiedliche Kreise, und
seitdem Attilio Profeti das heilige Sakrament der Ehe gebrochen hatte und
seine Beziehung zu Anita öffentlich geworden war, hatte Casatis Vater die
Besuche mit seiner Familie bei ihnen eingestellt.
Während sie vor dem Getränketisch lockeren Smalltalk hielten, spürten
beide, wie ihre Knie vor Aufregung weich wurden. Nach knapp einer Stunde

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