Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

ihm jemals ein Leben würde teilen können. Ob die jeweiligen Freunde
überein zu bringen wären. Kurz, ob sie zusammen sein konnten. Und je mehr
sie sich das vorstellen wollte, umso weniger gelang es ihr. Denn mit der
Leidenschaft ist es auf die Dauer wie mit dem Tannin: Wenn man sie leicht
verdünnt – mit Liebe, Partnerschaft, einem geteilten Leben –, macht sie die
Haut schön weich. Aber im Reinzustand kann sie sehr bitter sein.
Allein der Fall der Berliner Mauer bescherte Ilaria und Piero für einen
kurzen Moment dieselben Emotionen bei einem öffentlichen Ereignis. Zum
ersten und einzigen Mal teilten sie nicht nur zwischen den Laken Euphorie,
Hoffnung und ein Gefühl der Befreiung. Türen, die jahrzehntelang versperrt
gewesen waren, öffneten sich und schienen den Blick auf eine neue Welt
freizugeben – in der vielleicht endlich Platz wäre für ein gemeinsames Leben.
Im Dezember 1989 trank Anita mit ihrem Mann den Morgenkaffee mit
dem Foto auf der Titelseite, auf dem junge Leute aus halb Europa voller
Begeisterung mit Hämmern auf die graffitibemalte Mauer einschlagen, und
rief: »Stell dir mal vor, Liebling, als ich meinen ersten Minirock trug, waren
viele von denen noch nicht einmal geboren. Himmel, sind wir alt geworden!«
Attilio Profeti warf ihr einen Blick zu, der verschlossener war als ein
Rollladen. »Sprich für dich.«
Das Ende des Kalten Krieges hatte die Satellitenregime der UdSSR eins
nach dem anderen in den politischen Untergang gestürzt, auch die
unbedeutendsten und entferntesten wie das äthiopische. General Meles
Zenawi, sein neuer junger Führer, machte es der Ex-DDR nach und öffnete
die geheimen Dossiers des Mengistu-Regimes, damit alle hineinschauen
konnten.
Doch nur kurz. Wie in Ostdeutschland zerbrachen ganze Familien an
dem, was dort zutage trat: Wer hatte wen verraten, wer hatte welche
Verwandten und Freunde denunziert, wer war in welchen intimen Situationen
ausspioniert worden? Schnell wurden die Archive wieder geschlossen und
später vernichtet. Die Spuren des Verrats, des Grauens und der
fünfhunderttausend Derg-Toten, die für das Gleichgewicht der Weltmächte
so irrelevant waren, verloren sich auf diese Weise, überlebten nur in den
zerbrochenen Seelen und dem verwundeten Fleisch der Überlebenden – wie
in Ietmgeta Attilaprofeti Ezezew, des Bruders, von dessen Existenz Ilaria
nichts wusste.
Nur wenige Zeitungen berichteten genauer über das Ende des Mengistu-

Free download pdf