Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

7


2010


»Nun lass doch mal gut sein, Schwester!«, hat Attilio heute Morgen zu Ilaria
gesagt, als sie ihm erklärte, warum sie in die Nationalbibliothek ging. »Was
soll dieses ganze Suchen und Graben? Wem nützt das?«
»Mir.«
Und weg ist sie. Nimmt den Fußweg durch die Unterführung, die die
Bahnsteige des Bahnhofs Termini miteinander verbindet, im Menschenstrom
der Touristen mit ihren Koffern, der Pendler mit ihren Aktentaschen,
eingetaucht in das violett färbende Neonlicht und überrollt von den
Lautsprecherdurchsagen zu Zugeinfahrten und Verspätungen – viele
Verspätungen – und dem Dröhnen der über ihren Kopf hinwegdonnernden
Züge.
Ilaria mag diese Art Geheimgang durch die Stadt. Und bildet sich ein,
eine der wenigen Ausnahmen von Nichtreisenden zu sein, die ihn schlicht als
Übergang von einem Viertel ins andere benutzen, vom Esquilin nach Castro
Pretorio. Außerdem liebt sie alles, was mit der Eisenbahn zu tun hat:
Fahrkartenschalter, Wartesäle, Waggons, Triebwagen, endlose Bahnsteige,
selbst die aufgeschütteten Bahndämme der Hochgeschwindigkeitszüge. Ihr
Großvater hätte als Bahnhofsvorsteher seine helle Freude an ihr gehabt.
Im Atrium der Nationalbibliothek in Castro Pretorio gibt Ilaria ihren
Personalausweis ab, bekommt ein Spindfach und schließt dort ihre Tasche
mit Haustürschlüssel und Handy ein. Sie nimmt nur Stift und Schreibblock
mit.
Nun ist sie im Saal mit den letzten analogen Karteikästen. Ihre Finger
blättern die abgegriffenen Karten auf den Metallschienen durch. Nach Jahren
der elektronischen Kataloge schätzt sie diese überholten Bewegungen: die
richtige Lade aus ihrem Holzfach ziehen (POL – PRU), auf das Lesepult
stellen und die Karten durchgehen: Pozzi, Procopio, Prodi ...
»Da ist er!«

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