Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

›Profeti, Attilio‹. Ihre Mutter hatte Recht. Er war nicht schwer zu finden,
man musste nur suchen. Sie hebt den Kopf und trifft auf einen gläsernen
Blick. Die junge Frau am Karteikasten gegenüber sieht sie durch die dicke
Brille der Schwerstkurzsichtigen an. Ilaria merkt, dass sie wohl lauter war als
beabsichtigt.
Mit der Online-Recherche hätte sie den Text von zu Hause aus bestellen
können, damit er bei ihrer Ankunft in der Bibliothek schon an der Ausgabe
bereitliegt. Doch Archivmaterial wie dieses muss man handschriftlich
bestellen wie vor über zwanzig Jahren, als sie hier für ihre Prüfungen lernte.
Sorgfältig schreibt sie Buchstaben und Zahlen der Signatur ab und versucht
gleichzeitig, den Sinn der Wörter zu ignorieren. Den des Titels unter dem
Namen ihres Vaters.
Die Bibliothekarin trägt orangefarbenen Lippenstift. Sie teilt Ilaria mit,
dass sie eine Stunde wird warten müssen. Eine Stunde! Die Frau klappt
einmal die Warnblinklippen auf und zu: »Ja«, sagt sie, »die Bestellungen aus
dem Papierarchiv dauern länger, weil sie nicht digitalisiert sind.« Ilaria geht
in die Bar, kann aber ohne Portemonnaie nichts bestellen, hat vor lauter
Anspannung keine Lust, zurückzugehen und ihre Sachen aus dem
Schließfach zu holen. Also blättert sie die Zeitschriften im Lesesaal durch
(›Gaddafi in Rom – Heute und morgen Koran-Lektionen vor mehreren
Hundert ausgewählten Jungfrauen. Abends gemeinsame Reitschau von
Berbern und Carabinieri‹). Keinen Moment denkt sie über den bestellten
Band nach, dafür sieht sie dauernd nach der Uhrzeit.
Endlich zeigen die Leuchtziffern über dem Ausgabetresen an, dass ihre
Bestellung bearbeitet wurde. Es handelt sich um einen dünnen Band mit
leicht vergilbten Seiten und ausgefransten Rändern, der nach altem Papier
riecht. Im Lesesaal setzt sich Ilaria an einen Tisch ganz hinten, jenseits der
Fenster in die Nähe des Notausgangs. Sie stützt die Ellbogen auf den Tisch
und schirmt mit den Händen ihr Gesicht ab. Sie will nicht beobachtet werden,
während sie die »Schriften zum faschistischen Rassismus« liest,
herausgegeben von Lidio Cipriani, bei dem es sich, wie sie schon mehrmals
Schülern erklärt hat, um den Erstunterzeichner des Rassenmanifests handelte,
mit dem Mussolini die Rassengesetze einführte. Und noch weniger will sie
beobachtet werden, wenn sie »Unsere Rasse in Afrika« liest, verfasst von
Profeti, Attilio.
Sie atmet tief und laut ein wie ein Gewichtheber, der sich über die Hantel

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