Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

»Und wie kommst du dahin?«
»Mit der Metro.«
»Aber die Stadt ist im Belagerungszustand, Polizei überall! Was, wenn
sie dich anhalten? Komm, ich fahre dich hin.«
Zum ersten Mal, seit er in Italien ist, verspürt der Junge den Wunsch,
Hals über Kopf wegzulaufen. Wer weiß, ob er das überhaupt noch kann. Ob
seine Beine noch einen Rest der Schnelligkeit von einst haben – die echte mit
Sehnen und Muskeln, nicht die aus seinen Träumen –, als er noch einen
lebenden Cousin hatte. Als er noch nicht raus war.
»Das muss nicht sein«, murmelt er. »Ich gehe allein.«
»Aber Ilaria hat Recht«, mischt sich Attilio ein. »Du kannst nicht die
U-Bahn nehmen. Zumindest nicht heute. Lass dich lieber von ihr fahren.«
Über den Blick des Jungen legt sich ein Schatten, auch das gesunde Auge
wirkt kurz wie vernebelt. Er verzieht das Gesicht.
»Nein, wirklich. Lieber nicht ...«
»Was ist los, vertraust du mir nicht?«, fragt Ilaria.
Er lässt schwer die Schultern hängen, weicht ihrem Blick aus. Seine
Verlegenheit ist deutlicher als alle Worte.
»Schau mal, Vertrauen ist wie ein Seil«, sagt sie schroffer als
beabsichtigt. »Man muss zu zweit anpacken, sonst hält es nicht.«
Attilio lacht amüsiert. »Willkommen zurück, Ilaria. Jetzt erkenne ich dich
wieder.« Dann sagt er zu dem Jungen: »Hör auf mich, wenn du keine
Standpauke willst, tu, was sie sagt.«


Schon aus der Ferne sieht man den glühenden Himmel, der sich in den
Fenstern des besetzten Hauses vor dem Hintergrund der Colli Albani spiegelt.
Ein scheinbar beliebiges Gebäude jenseits des Autobahnrings, umgeben von
schmucklosen Wohnblöcken, dem wirren Treiben des regionalen
Busbahnhofs und klobigen Industriebauten, überragt von der gelb-blauen,
riesigen Ikea-Halle, als hätte ein Raumschiff einen Container abgeladen. Also
eines der vielen Mietshäuser der römischen Peripherie, die für die Römer aus
den wohlhabenden Vierteln im nördlichen Stadtzentrum manchmal fremder
und exotischer sind als ein tropisches Land.
Erst als der Panda schon ziemlich nahe ist, begreift Ilaria, dass dieses
Glasgebäude mit dem ungepflegten Vorplatz kein beliebiges Bürogebäude
ist. Was vormals die Zufahrt war, ist nun ein rissiger Betonstreifen, aus dem

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