Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

wilde Minze und Ackertrespe sprießen. Die Satellitenschüsseln auf dem Dach
sind mit den Fenstern durch frei hängende Elektrokabel verbunden.
Vereinzelte Gruppen von Männern – keine einzige Frau – sitzen im Schatten
des Hauses. Sie sind dünn, dunkelhäutig und mit der hohen Stirn des Horns
von Afrika, die auch der Junge hat. Alle sehen zu, wie sie den Panda parkt.
»Warte hier«, sagt er und öffnet den Wagenschlag. Doch als er in dem
Gebäude verschwindet, steigt Ilaria aus und folgt ihm über den kahlen
Bürgersteig. Zwei Männer in weißen Kaftans starren sie stumm an, verfolgen
mit dunkler Iris jeden ihrer Schritte. Bis Ilaria an der Glastür steht, durch die
ein mit Klebeband notdürftig geflickter Riss geht. Sie tritt ein.
Aus der klebrigen Spätsommersonne kommend, steht sie plötzlich im
Dunkeln. Ein durchdringender Geruch umfängt sie in ihrer Blindheit: eine
Mischung aus Tomaten, heißem Fett, verstopften Toiletten, Schimmel,
Weihrauch, Kräutern und Schweiß. Als ihre Pupillen sich allmählich weiten,
erkennt sie eine große, unpersönliche Vorhalle, vielleicht war es mal ein
Krankenhaus oder die Zweigstelle eines Ministeriums, die jetzt aber von
verschiebbaren Wänden in ein Gewirr scheinbar sinnloser Räume unterteilt
ist, wie eine Sprache aus Gipskarton, deren Buchstaben Ilaria nicht kennt,
dazwischen Matratzen, schiefe Tische, dreifüßige Sessel und sogar ein
Fahrrad. Hier sind nun auch Frauen und Kinder. Manche mit klaren,
zweckmäßigen Bewegungen, andere wie in einem grenzenlosen Meer des
Wartens schwimmend. Ein Mann in Spediteurskluft läuft mit besorgtem
Blick auf die Uhr hinaus, mit dem eingefallenen Gesicht von Menschen, die
schlecht und immer zu wenig schlafen. Auf einem durchhängenden Sofa
sitzen drei Männer und beobachten Ilaria, als sei sie eine Taube, die sich
hierher verirrt hat. Niemand spricht sie an. Ein Mädchen mit wässrigen,
großen Augen wie Kaffeetassen will zu ihr laufen, doch eine verschleierte
Frau hält es am Kleidchen fest. Der Junge ist verschwunden. Ilaria erblickt
einen Treppenaufgang und geht darauf zu. Da kommen aus den Tiefen eines
verdreckten Gangs zwei Männer gelaufen und jagen sie schreiend und
schubsend hinaus.


»Für wen halten die mich?«, fragt Ilaria den Jungen, als sie wieder im Panda
sitzen und nach Hause fahren.
»Für eine, die kommt, ein Klo für hundert Leute sieht, die Matratzen auf
dem Boden, die kaputten Rohre, und betroffen ist. Und dann an die Zeitung

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