Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

schreibt: ›So dürfen wir Asylsuchende nicht behandeln!‹, ›Sie sind keine
Tiere, sie sind Flüchtlinge!‹. Und wenn alle darüber reden, muss die Polizei
kommen.«
»Aber die Polizei weiß doch ohnehin, dass dort Hunderte von Menschen
wohnen.«
»Ja, aber solange sie niemand ruft, tun sie so, als wüssten sie nichts. Es
gibt keinen anderen Ort für uns.«
Ilaria nickt. »Jetzt habe ich es verstanden. Deine Freunde halten mich für
eine schöne Seele.«
Der Junge sieht sie fragend an. »Schöne Seele?«
»Für eine, die kommt, sich empört und wieder geht. Ohne sich um die
Folgen ihrer Empörung zu kümmern.«
Der Junge lacht. »Ja. Wir haben schon genug Probleme.« Sie lacht
ebenfalls, während sie mit der rechten Hand im dichten Verkehr auf der
Casilina zwischen erstem und zweitem Gang hin und her schaltet. »Ich
konnte die auch noch nie leiden.«
Sie hat kaum zu Ende geredet, da kommt ihr wie ein schlecht verdauter
Brocken der Satz hoch, den sie vor ihrem Aufbruch gesagt hat: »Vertrauen ist
wie ein Seil, man muss zu zweit anpacken, sonst hält es nicht.« Erst jetzt wird
ihr klar, wovor der Junge sich fürchtete, als er nicht begleitet werden wollte:
dass sie unbeabsichtigt dazu beitragen würde, diesen Menschen ihr Dach über
dem Kopf wegzunehmen. Ilaria fühlt, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht
steigt. Unerträglich, was sie da eben von sich gegeben hat. Diese schlimmen
Kommentare, triefend von moralischer Überheblichkeit. Obwohl sie in
Wirklichkeit – das wird ihr jetzt klar – nur ein weiterer Ausdruck ihres
Privilegiertseins sind. Der Preis des verratenen Vertrauens ist nicht derselbe
für den, der alles hat, und den, der nichts hat. Das bedeutet schöne Seele:
Jemand, der in seiner Wohnung im sechsten Stockwerk sitzt, redet mit einem
anderen, der sich draußen unter dem Fenster am Seil festhält, so, als seien die
Folgen, wenn das verbindende Seil reißt, für beide gleich.
Ilaria dreht ihr Gesicht weg, um ihre Scham zu verbergen. Tut so, als
betrachte sie durch das Autofenster die Veranden auf der gegenüberliegenden
Straßenseite. Nach vorne muss sie eh nicht schauen. Sie stecken bei Torre
Maura fest, der Verkehr ist komplett zum Erliegen gekommen. Das
Schweigen dehnt sich so lange, dass der Junge, als sie ihn wieder anspricht,
zusammenzuckt.

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