Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

»Hat dein Vater denn jemals seinen Vater gesehen? Also meinen? Also
deinen Großvater, meine ich.«
»Einmal. In einem Auto. Als er ihn aus dem Gefängnis befreit hatte.«
»Was ist das für eine Geschichte mit dem Gefängnis? Das wollte ich
neulich schon fragen, aber da gab es so viel zu erzählen ...«
»Aus dem Derg-Gefängnis. Ich wurde dank ihrer Deportationen
geboren.«
»Wie meinst du das?«
»Ohne Deportationen hätten die Italiener keine neuen Siedlungen bauen
müssen, ohne Siedlungen wäre Attilaprofeti nicht nach Äthiopien
zurückgekehrt und mein Vater im Gefängnis gestorben. Meine Mutter wurde
mit mir schwanger in der Nacht nach seiner Heimkehr. Acht Jahre hatten sie
sich nicht gesehen.«
Ilaria sieht ihn an. »Welche Deportationen? Welche Siedlungen? Und
was haben die Italiener damit zu tun?«
»Die nach der großen Hungersnot. Hast du noch nie etwas von Tana
Beles gehört?«
Ilaria schüttelt entschieden den Kopf. »Nein. Keine Ahnung, was das ist.«
Der Junge lächelt schief. »Dann hatte mein Freund also Recht ...«
»Womit?«
»Damit, dass ihr nichts von uns wisst, auch nicht, wenn ihr da wart.«
Die plötzliche Erinnerung an Tesfalem – mein Fliesenbruder – wälzt sich
über den Jungen mit dem Gewicht eines Grabsteins. Mit brüchiger Stimme
sagt er: »Das ist eine lange Geschichte. Kompliziert.«
»Erzählst du sie mir?«
Ilaria schließt mit dem Panda in der Schlange auf, die sich etwas voran
bewegt hat – zweieinhalb Meter, vielleicht sogar drei. Der Junge beginnt zu
erzählen.
berli17

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