Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

hineinschaust, du könntest den Verstand verlieren«, sagte sie nur. »Wenn du
wissen willst, wer du bist, schau hin, wie die anderen dich sehen.«
Obwohl seine Mutter dafür gesorgt hatte, dass Ietmgeta so italienisch wie
möglich erzogen wurde, erwachte an der Universität in ihm der Stolz des
Afrikaners. Eine neue Hoffnung auf Würde durchzog in diesen Jahren den
Kontinent, und Äthiopien, das bis auf jene zu vernachlässigenden fünf Jahre
italienischer Besatzung nie kolonialisiert worden war, bildete sein
moralisches Zentrum. Ietmgeta ließ sich die Haare zu derselben schwarzen
Aureole wachsen, wie sie die Engel an den Kirchendecken trugen, auch wenn
seine viel weniger kraus waren als die der Kommilitonen, fast schon glatt.
Als der Derg kam, freute sich Ietmgeta über das Ende des Feudalsystems, den
Vorstoß des Proletariats, das Land den Bauern. Er hatte eine Kollektivlesung
des Kapitals organisiert, von der ersten bis zur letzten Seite. Das Buch gab es
nur auf Russisch oder auf Deutsch, also übersetzte ein Genosse, der in
Moskau studiert hatte, aus dem Stegreif Marx’ Konzepte ins Amharische und
deklamierte Satz für Satz vor einem Kreis schweigender junger Männer. Mag
sein, dass sie nicht viel verstanden, doch die monatelange Lesung wurde kein
einziges Mal unterbrochen.
Auch die Annexion Eritreas wurde als Rückkehr ins Mutterland
Abessinien begrüßt. Singend zogen die Rekruten an die Front, so hieß es,
glücklich, für den Internationalismus zu sterben. Ietmgeta ging in die Dörfer,
wie viele seiner Mitabsolventen, und lehrte dort das ABC und den
Marxismus. Das war Pflicht, doch er tat es aus Überzeugung. Er wollte Teil
der unaufhaltsamen Bewegung sein, die dem ganzen Volk teff und soziale
Gerechtigkeit bringen würde – heute in Äthiopien, bald überall in Afrika und
schließlich auf der ganzen Welt. Auch er wollte am Aufbau der neuen Ära
mitwirken.
Die Enttäuschung folgte auf dem Fuße.
Die große Agrarreform verteilte das Land nicht unter den Bauern,
sondern unter den Parteifunktionären, die sie genauso schikanierten wie die
Feudalherren jahrhundertelang vor ihnen. Und das von den Worten
berauschte Volk musste in Wahrheit als menschlicher Treibstoff für die
blutige Kriegsmaschinerie herhalten. Jedes kebele bekam eine Quote von
Rekruten zugewiesen, die es zur Verfügung stellen musste. Wenn die
festgesetzte Zahl nicht erreicht wurde, ging der kebele-Capo durchs Viertel
und holte die Jungen mit Waffengewalt. Während Ietmgeta seinen Schülern

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