Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

die eleganten Verschlingungen des amharischen Alphabets beibrachte,
welche nie zuvor einen geschriebenen Text gesehen hatten, wurde er mehr als
einmal von hereinstürmenden Soldaten gestört, die mit angelegten
Kalaschnikows Schüler hinauszerrten. Die Menschen fingen an, ihre Kinder
in denselben Höhlen zu verstecken, in die sie Jahrzehnte zuvor vor dem
italienischen Giftgas geflohen waren.
In Abebas Café machte schon lange keiner mehr Scherze über Mengistus
dunkle Hautfarbe. Zu Beginn der Revolution war es noch lustig gewesen,
dass ein Kommandant diese Sklavenhaut hatte. Jetzt war daran nichts mehr
komisch. Um seine Macht bei den Streitkräften zu festigen, hatte der Derg an
einem einzigen Tag die sechzig höchsten Offiziere ermordet. Als Abeba
erfuhr, dass unter ihnen auch Ras Mesfin war, lief sie zu Carbone. Der weinte
im Verborgenen, um sich nicht von den Nachbarn sehen zu lassen. Dieser
aristokratische Partisan hatte im Krieg den Tod vieler Italiener verantwortet,
im Frieden aber fast ebenso viele gerettet – auch das Leben des alten
versandeten Automechanikers. Abeba schloss sich seinen und Maazas Tränen
an. Sie verstand nicht, warum man einen so edlen und großzügigen Mann
hatte töten müssen.
Von da an ging es stetig bergab. Zuerst wurden mitten in der Nacht die
Häuser gestürmt, Mütter hielten auf der Straße ihren Kindern die Augen zu,
damit sie die aufgeschlitzten Leichen nicht sahen. Die Festgenommenen
mussten in einer langen Reihe in Ketten auf den Bürgersteigen stehen mit
einem Schild um den Hals: ERSCHIESST MICH, ICH BIN EIN
VERRÄTER. Bis schließlich ein emsiger Volksrevolutionär daherkam, mit
seinem frisch vom kebele-Capo ausgehändigten Gewehr, und der
Aufforderung Folge leistete – vielleicht weil er bei einem von ihnen Schulden
hatte oder den Blick auf eine ihrer Frauen geworfen hatte, oder weil er
einfach für die Revolution brannte.
Wildschweine gab es nun überall.
Ietmgeta begann, politische Flugblätter gegen das Regime zu verteilen. Er
war frisch verheiratet, doch über seine Aktivitäten mit Hilfe des
Hektographen, mit dem er sie druckte, sprach er nicht einmal mit seiner Frau,
zu gefährlich. Er war ein wertvoller Aktivist: Der Widerstand gegen den Derg
wurde hauptsächlich von Studenten organisiert, und er mit seinen über
dreißig Jahren stand nicht mehr so im Fokus der Soldateska.
»Sie sagen, sie zerstören unsere Häuser«, sang Abeba beim Kaffeekochen

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