Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Als sie erfuhr, dass ihr Sohn lebte, sagte Abeba zu sich: »Ich habe ihn
Ietmgeta genannt, das heißt ›Ich bin edel überall‹. Und das war er auch, edel
im Haus seiner Mutter, edel draußen auf der Straße und edel, wenn er seine
Schüler unterrichtete. Erzengel Gabriel, beschütze ihn, während er edel ist im
Gefängnis.«
Dann schrieb sie mit Carbones Hilfe einen Brief.
Am selben Tag, als der Brief Attilio Profeti erreichte, wandte dieser sich
an den Botschafter der Demokratischen Volksrepublik Äthiopien. Seine
Repräsentanz lag jenseits von Castro Pretorio in einer kleinen Jugendstilvilla,
deren Mauern mit einem violetten Klematisteppich überzogen waren, der ihn
unpassenderweise an das Bordell vor den Toren von Bagnacavallo erinnerte,
das er als Jugendlicher besucht hatte. Der Diplomat servierte ihm einen
perfekten abessinischen Kaffee.
»Ihre Informationen sind unzutreffend«, sagte er ausnehmend freundlich.
»In Äthiopien sind alle Menschen glücklich. Daher gibt es keine Verbrecher,
und niemand sitzt im Gefängnis.«
An diesem Abend berührte Attilio Profeti mit seinen Lippen die Stirn
seines Letztgeborenen, dem er seinen Vornamen gegeben hatte. Während er
leise das Zimmer verließ, während er Anita küsste und in seinen Mantel
schlüpfte, während er in die elegante Wohnung seiner offiziellen Familie
fuhr, überlegte er ununterbrochen, wie er seinen erstgeborenen Sohn retten
konnte, dem er nicht einmal seinen Nachnamen gegeben hatte. Er wusste es
nicht. Er konnte nur auf eine günstige Gelegenheit warten.
Sie kam ein paar Jahre später zusammen mit einer noch schrecklicheren
Hungersnot, die merkwürdigerweise am heftigsten in den Gegenden wütete,
wo der Widerstand gegen den Derg am größten war. Ihr folgte die
Entscheidung, die Bevölkerung unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe
in Gebiete umzusiedeln, deren ursprüngliche Bewohner nicht nach ihrem
Dafürhalten gefragt wurden.
Sie kam mit den italienischen Ingenieuren, Architekten und
Bauunternehmern, welche die neuen Siedlungen errichten sollten, und sie
kam mit einem Gewinn beim Pokerspiel.
Und natürlich geschahen nach dieser Reise Attila Profetis nach Äthiopien
noch viele andere Dinge: die Gewalt an den indigenen Völkern in den
Siedlungsgebieten, die bewaffneten Kämpfe, der Guerillakrieg, die
Entführung einiger italienischer Bautechniker, eine unhaltbar werdende Lage,

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