Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

inmitten der Abgründe eines Landes, das gerade dem höllischen Dreiklang
aus Hungersnot, Krieg und Diktatur entkommen ist. Dort sehen sie, dass
andere Italiener vor ihnen, die Wohlstand und Fortschritt versprochen hatten
für die Kinder mit den aufgeblähten Bäuchen, für die Frauen mit den
schlaffen Brüsten, stattdessen zur endgültigen Bilanz ihres Elends
beigetragen haben. Sie stellen fest, dass die berühmte italienische
Gewitztheit, der extrem elastische Umgang mit den Gesetzen, der in der
Heimat oft mit einem nachsichtigen Lächeln quittiert wird wie ein
Kinderstreich, dass sie an diesem Ort zu etwas geführt haben – wissentlich
oder nicht spielt keine Rolle –, das die Hölle auf Erden war. So verschwindet
mit einem Schlag das bekannte Spiel do ut des zwischen kleinen und großen
Unehrlichkeiten aus ihrem Blick, wie ein Tsunami den tropfenden
Wasserhahn hinfortspült. Und »für dieses schreckliche Vorgehen Italiens«
(Ilaria liest noch einmal die krause Zusammenfassung des Referenten) gelingt
es ihnen nicht mehr, so sehr sie es auch versuchen, einen »rational fassbaren,
ruhig durchdachten Grund« zu finden.
Ilaria schließt die Augen und stützt den Kopf in die Hände. Es ist fast
dunkel draußen. Das bläuliche Licht des Bildschirms fällt ihr auf Stirn und
Nase, die zwischen ihren Fingern hervorschauen. Mit geschlossenen Augen
versammelt sie alles, was sie in nicht einmal zwei Tagen über ihren Vater
erfahren hat, an dem Punkt irgendwo zwischen ihren Augen, der für sie der
Sitz des Bewusstseins ist. Sie fühlt sich wie einer dieser dummen Propheten,
die zum Göttlichen sagen: »Offenbare dich!« und erblinden. Doch das hier ist
keine Offenbarung, wenn überhaupt ist es ihr Gegenteil: Der Ozean der
Realität passt nicht in eine Kaffeetasse. Zumindest nicht auf einmal.
Und wie einfach war es, alles zu erfahren. Weniger als eine Stunde im
Netz, und schon hatte sie alle nötigen Informationen. Wie ihre Mutter gesagt
hat, es ist ganz leicht zu finden. Man muss nur suchen.


Als Piero Casati von den Rasierschaumresten im Waschbecken aufschaut,
blickt ihm aus dem Spiegel ein Mann entgegen. Er hat nicht die eng
beieinanderstehenden Augen wie sein Vater – die mitteleuropäische
Abstammung seiner Oma mütterlicherseits hat ihm die leicht fuchsartige
Prägung von Edoardo Casati und seinen Kardinalsvorfahren erspart. Doch die
Anklage in jenem Blick ist nicht das Objektiv eines Kameramanns, ihm kann

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